Fern wie Sommerwind
erzählen, was wir den Tag über gemacht haben. Das Besteck klappert leise auf den Tellern. Ich vermische die Linsen und das Gemüse zu einem Brei. Aus dem Radio brabbelt es unentwegt, es läuft den ganzen Tag. Wir hören den Nachrichten zu. Hunderte Naturkatastrophen, so scheint es, alle weit weg, so weit, dass es einem schwer fällt, sich die wirklich vorzustellen. Die Welt ist einfach zu groß.
Nach dem Essen helfe ich Irmi beim Spülen und mache mich dann auf zu einem Spaziergang durch die engen Gassen des kleinen Örtchens.
Ganz egal wo ich langlaufe, es riecht überall nach Kiefernnadeln, nach feuchtem Waldboden. Und man hört etwas weiter weg das Meer rauschen. Und die Möwen. Überall diese Möwen!
Es ist noch hell. Die Urlauber schlendern vor sich hin, entspannt, mit einem Softeis in der Hand, ausgeruht und mit einem Lächeln im Gesicht. Die kleinen Cafés sind bis auf den letzten Platz gefüllt und auch bei Dario herrscht Hochbetrieb. Ich winke ihm im Vorbeilaufen zu. Dario zwinkert zurück, während er den Teig schwungvoll bis fast an die Decke schleudert und ihn dann wieder auffängt, ohne wirklich hinzusehen.
Poser!
Ich laufe weiter, rein in den kleinen Park. Wirklich klein, ich habe ihn in drei Minuten durchquert.
Hinter dem Park steht ein zweistöckiges altes Gebäude mit einem Hof, der für alle zugänglich scheint. Man hört lautes Kinderkreischen. Ich laufe durch das schmiedeeiserne Tor und bleibe erstaunt stehen. In der Mitte des Hofes ist ein Wasserbecken aufgebaut, in dem vier durchsichtige Riesenkugeln schwimmen, überdimensionale, luftgefüllte Seifenblasen, in die Kinder reinklettern und darin toben können, so wie Hamster in Laufrädern.
Ich will schon weitergehen, da bemerke ich Martin. Er sitzt in der Mitte des Hofes auf einer grünen Holzbank und schreibt etwas in ein Büchlein. Oder zeichnet er? Ich beobachte ihn eine Weile. Er ist ganz vertieft und nagt auf seiner Lippe. Sein sonnengelbes Haar fällt ihm in die Stirn, sein Nacken ist über das Buch gebeugt. Während er mit dem Stift über das Papier fährt, bemerke ich zum ersten Mal, was für schöne Hände er hat.
Ich kann unmöglich hier so stehen bleiben und starren.
Nach kurzem Zögern laufe ich über den Kiesweg auf die Bank zu und setze mich unauffälig an das andere Ende. Martin ist so konzentriert, dass er mich gar nicht bemerkt.
»Hi«, sage ich leise und blicke auf meine Hände, die mir plötzlich so ungelenk vorkommen.
»Hi«, antwortet er überrascht, klappt rasch sein Buch zu und läßt den Stift in der Tasche verschwinden.
»Was machst du hier?«
»Ich komme öfter hierher. Was macht dein Sonnenbrand?«
Ich streiche vorsichtig über meine Schulter. »Weg. Wahnsinn.«
»Hab ich doch gesagt.« Seine blauen Augen strahlen mich an.
Ich hole das Fläschen aus meinem kleinen Rucksack und will es Martin zurückgeben. Aber er schüttelt den Kopf und schiebt meine Hand wieder zurück. »Behalte es ruhig. Für morgen haben sie wolkenlosen Himmel angesagt. Sonne pur, über zwölf Stunden lang.«
»Wow.« Seine Berührung macht mich nervös.
»Windstill«, fügt er hinzu, und jetzt erst lässt er meine Hand wieder los.
»Oh. Da werde ich wohl keinen einzigen Drachen loswerden.«
»Wenn du willst, tausche ich mit dir. Kannst mein Popcorn verkaufen.«
Ich lächle. Womit habe ich das bloß verdient? Erst das Sonnenöl und jetzt das.
»Bist du ein Dichter?« Ich deute auf sein Büchlein. Es ist in Leder gebunden und schon ganz abgegriffen.
»Nee.« Er dreht das Buch ein paar Mal hin und her und legt es mir schließlich in die Hand.
Ich öffne es vorsichtig, blättere die Seiten um, als wären es Schmetterlingsflügel.
Martin ist kein Dichter. Er zeichnet. Er skizziert. Ich sehe mir die Skizzen an und erkenne Menschen, Kinder und auf den zweiten Blick auch Rollstühle, verrenkte Glieder oder sogar fehlende.
Ich sehe Martin fragend an und er deutet mit dem Kopf Richtung Haus. Und erst da fällt es mir auf. Auf der Terrasse des Hauses sitzen Kinder in Rollstühlen und sehen sich die gesunden Kinder an, wie die sich in den Bällen hin und her schmeißen und vor Freude kreischen.
»Oh Gott«, sage ich und mehr fällt mir erst mal nicht ein.
»Das ist ein Sanatorium.« Martin blättert die Seiten im Büchlein weiter und noch mehr Skizzen kommen zum Vorschein. Schielende Augen, verzogene Lippen, verbogene Finger.
»Warum zeichnest du sie?« Ich finde das irgendwie makaber.
»Ich finde sie toll. Du nicht? Sie sitzen
Weitere Kostenlose Bücher