Fern wie Sommerwind
das Rad und wir beide schlendern nebeneinander her. Ab und zu schauen wir uns an.
»War es so, wie du es dir vorgestellt hast?«, fragt Martin.
»Ach weißt du. Das mit der Vorstellung sollte man lieber vergessen. Je schneller, desto besser. Die Vorstellung ist doch immer nur ein Klischee.«
»Hast du ein Selbstfindungsbuch gelesen?« Er stupst mich in den Arm.
»Mach dich nicht lustig über mich.« Ich schubse zurück.
Wir bleiben vor dem Tor stehen. Martin lehnt das Fahrrad gegen den Holzzaun, schließt es an und überreicht mir feierlich den Schlüssel.
»Also dann.« Er beißt sich auf die Unterlippe.
»Also?«
»Sehen wir uns morgen?«
»Mit großer Sicherheit.«
»Schön.«
»Ja.«
Und schon wieder stockt das Gespräch. Ein ständiges Auf und Ab, Hin und Her, Vor und Zurück. Und nichts, was ich dagegen tun könnte.
»Gute Nacht. Und werd schnell wieder gesund.«
»Mach ich«, sage ich noch, schlüpfe dann schnell durch das Tor, die Stufen zur Veranda rauf, bevor es zu peinlich wird.
Oben im Zimmer lege ich mich wieder aufs Bett und greife mir mein Buch, das, wo ich die ganzen Figuren eingetragen habe – Rollen aus Filmen, die ich gerne mochte, Figuren aus Liedern, sehnsüchtig besungen. Toughe, selbstbewusste, kreative, schlagfertige, geheimnisvolle, vielleicht etwas verrückte Frauen. Immer die gleichen eigentlich. Nur mit anderen Namen, aber sonst sind sie sich auffällig ähnlich, wie eine Uniform. Jetzt erst fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich blättere weiter. Wer schafft es schon, so zu sein? In diesem echten Leben? In diesem Leben, wo man aufs Klo gehen muss und pupsen, wo einen rot angelaufene Wangen verraten, wo einem die besten Sprüche erst dann einfallen, wenn die entsprechende Situation schon längst vorbei ist.
Ich klappe das Buch zu, rolle mich auf den Rücken und starre, Arme und Beine von mir gestreckt, an die Decke.
Ich selbst, ich habe doch noch nichts von der Welt gesehen, jedenfalls nicht viel. Da wird es noch so viele Momente geben, die mich überraschen und aus der Bahn werfen werden, in denen ich einfach zusammenbrechen werde, mit verheultem Gesicht und geschwollenen Augen. Es wird Menschen geben, die mir wehtun werden, und andere, die mir ans Herz wachsen. Hochzeiten, Geburten, Beerdigungen, Missverständnisse, Geständnisse, Freunde, Lügen, Begeisterung, Fieberträume, Erfolge, Lieben, Langeweile, Tanzkurse, Staus, Magenverstimmungen.
Da kann ich doch unmöglich immer tough bleiben, auch nicht selbstbewusst, und schon gar nicht immer geheimnisvoll. Das sehe ich jetzt ganz klar. Ich blättere noch einmal durch die Seiten und reiße schließlich jede einzelne raus, sage Danke und Tschüs , wie es sich gehört, und schmeiße sie dann in den Papierkorb. Einfach so.
Auf eine der übrig gebliebenen Seiten schreibe ich:
ICH mag:
Lichterketten, doppelstöckige Regionalbahnen, den Geruch von frisch gemähtem Rasen, Nebel, wenn das Licht im Kinosaal runtergedimmt wird, alles mit Schokolade, Marmelade kochen, den Moment, wenn Musik ihren Höhepunkt erreicht und es dann explodiert im Bauch, alte Brücken aus Stein, Schorf abpulen, Weihnachtskugeln an den Baum hängen, im Nacken gestreichelt werden, Katzen, Rucola mit getrockneten Tomaten und Parmesan, vietnamesische Frauen, die an der U-Bahn Blumen verkaufen, bärtige Männer, die große Hunde streicheln, Feuerwerk, große Ringe, warme Wollsocken, mit Mama Tretboot fahren, mein neues rotes Fahrrad. Irmi und ihre Tupperdosen. Rocco, Ruth, James, Dario. Ich mag Martin.
Das ist doch ein Anfang!
Gruß an mich selbst. NORA
Und jetzt taucht Martin auch noch in meinen Zukunftsvisionen auf.
Ich lasse die letzten Tage noch einmal Revue passieren. Zum Beispiel das, was Rocco über mich gesagt hat, dass ich ständig nach Bestätigung heische. Wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, dann hat er wahrscheinlich recht. Ich möchte immer sofort wissen, was die Leute über mich denken, und am besten muss es gleich etwas Gutes sein. Ich kann schlecht mit Ungewissheiten leben, deshalb macht mich die Sache mit Martin auch ganz verrückt. Aber Rocco hat mich durchschaut, und was ich daran am Beeindruckendsten finde, ist, dass er mir das ganz schonungslos gesagt hat, obwohl er mich doch offensichtlich mag. Das ist neu für mich – unschöne Wahrheiten aussprechen und trotzdem befreundet zu sein, das hat bisher für mich nicht zusammengepasst. So etwas muss man aushalten, schätze ich mal.
Kurz bevor ich wegdöse, klopft Irmi an meine
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