Ferne Tochter
meine Familie ist streng katholisch, der Glaube gehört zu meinem Leben. Zu meinem gehört er nicht, sage ich, mir ist er in meinem Elternhaus verlorengegangen. Vielleicht kannst du es versuchen, mir zuliebe? Nein. Und wenn ich dich inständig bitte? Francesco, es ist sinnlos. Und was ist mit unseren Kindern? Würdest du sie nicht einmal taufen lassen? Nein. Er schweigt. Wenn dir die Kirche so wichtig ist, wird es mit uns sowieso nicht gutgehen, sage ich. Es ist besser, wenn wir uns trennen. Er sieht mich an, nimmt meine Hand, schüttelt den Kopf. Ich liebe dich. Mach dir nichts vor, sage ich, viele Ehen zerbrechen an diesen Fragen. Wir heiraten im Standesamt, sagt Francesco. Und wie willst du das deinem Vater beibringen? Das weiß ich noch nicht. Er wird mich dafür hassen, sage ich. Nein, das wird er nicht. Er hat dich vom ersten Moment an gemocht. Wir haben uns nicht über Religion unterhalten, sage ich. Mein Vater liebt mich, er wird es verstehen, auch wenn es ihm schwerfällt.
Ich schiebe mich an den Plastikplanen vorbei und stelle meinen Rucksack ab. Die Orgel ertönt. Ich ziehe meinen Overall an.
Vor sechs Tagen habe ich zuletzt an meinem Engel gearbeitet. Es kommt mir vor wie sechs Monate.
Ich steige auf die erste Leitersprosse, spüre wieder einen Schmerz in meinem rechten Fuß.
Meine Arbeitsmaterialien liegen unberührt oben auf dem Gerüst. Für die Reinigung der Flügel brauche ich nicht mehr lange, zwei Tage noch, dann werde ich mit dem Kopf beginnen.
Ich höre die Stimme des Priesters, das Gemurmel der Gläubigen.
Wie hat Filippino Lippi es geschafft, die Szene so lebendig werden zu lassen? Sie ist voller Bewegung, voller Spannung.
Ich folge den Augen des Engels, prüfe, ob mir in Marias Gesichtsausdruck etwas entgangen ist, eine Angst oder ein verborgenes Glücksgefühl.
Nein, aber ich entdecke die Ambivalenz nicht mehr, eher eine Traurigkeit, eine Melancholie. Oder ist es Konzentration?
Mein Blick wandert an ihrem grün gefütterten, blauen Umhang entlang, der ihr rotes Gewand zur Hälfte verdeckt, und bleibt an ihrem Bauch hängen. Sieht man ihr die Schwangerschaft bereits an? Darüber habe ich noch nie nachgedacht.
Ich stehe im Badezimmer und betrachte mich seitlich im Spiegel. Ist mein Bauch schon gewölbt? Das kann nicht sein. Ich bin erst in der siebten oder achten Woche. Johannes’ Mutter hat alles geregelt. Heute waren wir bei einer Beratung, Vater und Mutter müssen nicht zustimmen, sie werden von dem Abbruch nichts erfahren. In vier Tagen ist es so weit. Ich gehe direkt nach der Schule zu dem Gynäkologen. Zu Hause lege ich mich ins Bett. Falls Mutter fragt, sage ich, ich habe meine Tage. Bluten werde ich bestimmt. Meistens fragt sie sowieso nicht. Mir wird übel. Ich muss mich übergeben. Ist es die Schwangerschaft oder die Angst oder das schlechte Gewissen? Abtreibung bedeutet Mord, sagt Vater. Glaubt Mutter das auch? Ich habe sie nie gefragt. Wahrscheinlich ja. Und ich? Was glaube ich? Ich weiß es nicht. Ich spüle den Mund aus und wasche mein Gesicht. Wir Eltern müssen in dieser Situation zusammenhalten, sagt Johannes’ Mutter. Ihr seid so jung, habt euer ganzes Leben noch vor euch, ihr könnt nicht mit siebzehn Jahren Eltern werden. Lass mich in Ruhe mit deiner Mutter reden. Das geht nicht!, rufe ich. Wenn Sie das tun, bricht alles zusammen! Mama, hör auf, sagt Johannes, es hat keinen Zweck. Aber schlimmer kann es nicht werden, sagt sie. Du brauchst jetzt die Unterstützung deiner Eltern. Sie kennen meine Eltern nicht!, schreie ich. Die sind anders als Sie, die schicken mich sofort ins Internat! Das kann ich mir nicht vorstellen, sagt Johannes’ Mutter und nimmt mich in die Arme. Judith? Ich drehe mich um. Mutter steht in der Tür. Wieso steht sie da? Habe ich nicht abgeschlossen? Es klang, als ob du spucken müsstest, sagt sie und sieht mich prüfend an. Ja, ich habe irgendwas Falsches gegessen. Dir ist sonst nie schlecht, sagt Mutter, ohne die Miene zu verziehen. Bei Claudia gab es gestern Brötchen mit Ei, sage ich. Vielleicht war das Ei nicht mehr gut. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Bist du schwanger?
Mein telefonino klingelt. Signor Meloni wird mir nicht noch einmal erlauben, so früh zu arbeiten.
»Hallo?«, sage ich leise.
Zum Glück setzt die Orgel ein.
»Arbeitest du etwa schon?«, fragt Selina. »Jetzt ist doch Frühmesse.«
»Ja, ich kann nicht lange sprechen.«
»Wollen wir uns heute Abend zum Essen treffen?«
»Da will ich meinen
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