Ferne Tochter
beiseite. Ich dachte immer, ihr versteht euch so gut. Ja, sage ich. Hat er eine andere? Nein, antworte ich. Ich finde, ihr passt super zusammen. Claudia, ich … bin schwanger.
Was?
Sie schlägt die Hand vor den Mund. Ich weiß es seit zwei Wochen. Und deine Eltern? Die haben bisher keine Ahnung. Mensch, hättet ihr nicht besser aufpassen können? Was ist das denn für ein blöder Kommentar! Wieso blöde?, fragt Claudia, ich würde mich nie auf ein Gummi verlassen. Das sagst du so leicht, deine Eltern schicken dich nicht ins Internat, wenn sie bei dir die Pille finden. Das würden deine auch nicht tun. Und ob! Du kennst doch ihre veralteten Moralvorstellungen. Hast du schon einen Termin für die Abtreibung? Nein, antworte ich. Vor meinen Augen verschwimmt alles. Dann wird’s aber Zeit. Johannes’ Mutter spricht heute mit einem Gynäkologen. Ich hätte das längst hinter mich gebracht. Wie kannst du das behaupten?, frage ich, du warst noch nie in so einer Situation. Denkst du etwa im Ernst darüber nach, das Kind zu behalten? Ich weiß nicht, was ich denken soll. Das begreife ich nicht, sagt Claudia und kräuselt die Lippen. Willst du dir dein ganzes Leben versauen?
Mir ist kalt. Ich ziehe meine Strickjacke an und gehe zum Wagen zurück.
Gleich Viertel nach sieben. Auf dem Ring 2 ist nicht mehr viel Verkehr.
Ich finde einen Parkplatz vor dem griechischen Lokal. Vielleicht ist Harald Jansen wieder nicht zu Hause. Vielleicht will er mir Tessas Adresse nicht geben. Vielleicht weiß er nicht, wo sie lebt.
Ich klingele.
»Hallo, wer ist da?«, fragt eine Kinderstimme.
»Mein Name ist Judith Velotti. Ich würde gern deinen Vater sprechen.«
»Okay.«
Der Summer ertönt, die Tür springt auf.
»Vierter Stock«, ruft ein Mann von oben.
Im Treppenhaus riecht es nach Zwiebeln, die Wände sind seit Jahren nicht gestrichen worden, auf einer Fensterbank stehen ein paar Grünpflanzen und eine Gießkanne aus gelbem Plastik.
Harald Jansen und seine Zwillinge erwarten mich an der Wohnungstür. Alle drei tragen ihre blauen Fußballhemden.
»Guten Abend«, sage ich und strecke Harald Jansen die Hand entgegen. »Ich heiße Judith Velotti.«
Sein Händedruck ist fest. Er sieht mich an. Weiß er, wer ich bin?
»Sind Sie Lehrerin?«, ruft einer der Zwillinge.
Der andere fängt an zu kichern.
»Kommen Sie herein.« Harald Jansen lächelt. »Wenn Sie die Unordnung nicht stört …«
Die Wohnung ist hell, es duftet nach selbstgebackenem Kuchen, überall liegen Schuhe, Bälle und Spielzeug herum. An den Wänden hängen Fotos von den Zwillingen. Ein Foto von Tessa sehe ich nicht.
»Ihr geht mal in euer Zimmer.«
»Wir wollen aber fernsehen«, rufen sie im Chor.
»Jetzt nicht.«
»Bitte.«
Er fährt ihnen durch ihre dunklen Locken. »Nachher gucken wir uns zusammen eine DVD an.«
»Welche?«
»Das verrate ich nicht.«
Widerwillig verschwinden die beiden hinter einer Tür, auf der ein blauer Zettel klebt mit der Aufschrift
WE ARE TWINS
.
Ich folge Harald Jansen ins Wohnzimmer, sehe die IKEA -Möbel, eine Palme, Bilder von Klee und Miró. Hier ist Tessa aufgewachsen.
Er zeigt auf das rote Sofa. »Nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas trinken? Ein Glas Wasser oder einen Saft?«
»Gern ein Wasser. Danke.«
Er holt zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser. Ich lag richtig mit meiner Schätzung. Er ist Mitte fünfzig oder älter.
»Ich habe mich oft gefragt, wann Sie kommen würden«, sagt er und schenkt uns ein. Seine Hand ist ruhig.
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Der Vorname Judith ist eher selten, und altersmäßig passt es auch. Sie waren ja erst siebzehn.«
»Tessa hat mir vor mehr als zwei Jahren einen Brief geschrieben …« Ich kämpfe gegen die Tränen. »Ich habe ihn Anfang September im Haus meiner Mutter gefunden … In den Tagen danach habe ich ein paarmal hier vor der Tür gestanden … Einmal habe ich sogar bei Ihnen geklingelt …« Ich trinke einen Schluck Wasser. »Aber dann hat mich der Mut verlassen …«
»Tessa wohnt nicht mehr hier.«
»Das hat mir eine Nachbarin von Ihnen erzählt.«
»Die mit dem Terrier?«
»Ja.«
Harald Jansen rollt die Augen.
»Sie hat auch erwähnt, dass Ihre Frau nicht mehr lebt.«
Er nickt und streicht sich über die Stirn. »Sie ist bei der Geburt der Zwillinge gestorben.«
Wir schweigen. Aus dem Nebenzimmer dringen die Stimmen der Jungen. Sie streiten miteinander.
»Es muss eine harte Zeit für Sie gewesen sein«, sage ich schließlich. »Allein
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