Ferne Tochter
drei Kinder großzuziehen …«
»Ja … ich wusste manchmal nicht, wie ich es schaffen sollte, zumal ich auch noch meinen Beruf habe.«
Soll ich ihn fragen, was er macht? Oder steht mir das nicht zu?
Er lächelt, als könne er meine Gedanken lesen. »Ich bin Grundschullehrer. Meine Frau war auch Lehrerin … Wir hatten uns jahrelang vergeblich ein Kind gewünscht. Irgendwann haben wir beschlossen, eins zu adoptieren. Fünfeinhalb Jahre haben wir gewartet … Wir hatten die Hoffnung fast aufgegeben … Dann bekamen wir Tessa. Wir konnten unser Glück kaum fassen.«
Ich lehne mich zurück. Sie wird es gut bei ihnen gehabt haben.
»Es war so eine Freude für uns, sie heranwachsen zu sehen, zu erleben, wie sie die Welt entdeckte, wie neugierig sie auf alles zuging …« Er stockt.
Ich blicke auf das Bild von Klee. Ein Kind in Orange, Gelb, Rot, Weiß. Ein kugelrunder Kopf, zwei traurige Augen. Nein, ein glatzköpfiger Greis.
»Nach dem Tod meiner Frau wurde es schwieriger. Tessa vermisste ihre Mutter, sie war eifersüchtig auf die Zwillinge. Meine Frau und ich waren sehr offen mit dem Thema Adoption umgegangen, es war für Tessa nie ein Problem gewesen. Das änderte sich dann. Sie unterstellte mir, dass ich sie weniger lieben würde, weil sie adoptiert sei. Wir hatten ständig Auseinandersetzungen.«
Ob es Tessa recht ist, dass ich so viel von ihr erfahre?
»Mittlerweile war sie in der Pubertät. Wer weiß, vielleicht hätte es diese Kämpfe auch gegeben, wenn meine Frau am Leben geblieben wäre … Ich wusste mir keinen Rat mehr und schlug Tessa vor, zu einer Familienberatung zu gehen. Widerstrebend ließ sie sich darauf ein. Ich hatte erwartet, dass sie kein Wort sagen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Von da an hatten wir unseren wöchentlichen Termin. Das hat uns gerettet. Und so kam es, dass sie irgendwann anfing, nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen …«
»Papa!« Einer der Zwillinge stürmt weinend ins Zimmer. »Lukas will meine Fußballschuhe aus dem Fenster werfen.«
»Und was hast du gemacht?«
»Nichts …«
»Das stimmt nicht!«, schreit Lukas von nebenan. »Jonas hat meine Playstation versteckt!«
»Rück sie raus, dann passiert auch nichts mit deinen Schuhen.«
Jonas wirft mir einen bösen Blick zu und wischt sich die Tränen ab. »Kannst du nicht mitkommen, Papa?«
Er steht seufzend auf, nimmt seinen Sohn an die Hand und geht mit ihm in den Flur.
»Vertragt euch wieder«, höre ich ihn sagen. »Ihr wart vorhin so toll beim Fußball.«
Die Zwillinge maulen.
»Wie wär’s, wenn ihr Musik hört und dazu was malt?«
»Keine Lust!«, rufen sie im Chor.
»Aber wenigstens seid ihr euch wieder einig.«
Eine Tür fällt ins Schloss.
Harald Jansen kommt ins Wohnzimmer zurück. »Tut mir leid …«
»Macht nichts. Ich bin so erleichtert, dass Sie sich die Zeit nehmen und mir von Tessa erzählen. Wo lebt sie? Was macht sie jetzt?«
Er zögert. »Vielleicht ist es besser, wenn sie Ihnen das selbst sagt.«
»Ja …«
Er notiert eine Handynummer und reicht mir den Zettel.
»Danke.«
Ich stehe auf, gebe ihm meine Karte. Er steckt sie ein, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben.
»Viel Glück«, sagt er zum Abschied.
Ihre Adresse hat er mir nicht aufgeschrieben. Ich soll nicht vor ihrem Haus auf sie warten. Tessa soll selbst entscheiden können, ob sie mich treffen will.
Seltsam, dass er mich nicht gefragt hat, warum ich den Brief nicht eher bekommen habe. Er hat mich nichts gefragt.
[home]
25.
I ch sitze im Hotelzimmer und tippe Tessas Nummer ein. Zum dritten oder vierten Mal. Ich habe mir aufgeschrieben, was ich sagen will.
Mein Name ist Judith Velotti. Spreche ich mit Tessa Jansen? … Ich habe heute Ihre (nicht deine) Telefonnummer von Ihrem Vater bekommen. Ich bin … Ihre leibliche Mutter …
Ich schaffe es nicht. Wenn sie auflegt. Mich anschreit. Ich bin zwei Jahre zu spät. Wer weiß, wie sie lebt. Harald Jansen hatte Gründe, mir nicht mehr zu erzählen.
Mein telefonino klingelt. Francesco. Ich kann nicht mit ihm sprechen. Er wird meiner Stimme anmerken, dass es hier nicht nur um Mutter geht.
Ich höre die Mailbox ab.
»Wir wollten doch heute Abend telefonieren.« Er klingt enttäuscht. »Ich bin mindestens noch eine Stunde wach. Hoffentlich ist dir nichts passiert.«
Ich gehe ins Badezimmer, wasche mir das Gesicht, sehe die Panik in meinen Augen. Ich muss ihn zurückrufen, in den nächsten Minuten. Sonst gibt es Fragen, die ich nicht beantworten
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