Ferne Tochter
kann.
»Hallo.«
»Wo warst du?«
»Im Badezimmer.«
»Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Seit wann machst du dir Sorgen, wenn du mich nicht sofort erreichst?«
»Normalerweise nicht, aber in deiner Hamburger Welt kenne ich mich nicht aus …«
Ich berichte ihm vom Besuch bei Mutter, vom Haus, vom Vorgarten, von meinem Gespräch mit der Nachbarin. Es klingt, als hätte ich Stunden in der Bussestraße verbracht.
»Irgendwann wirst du den Hausstand auflösen müssen.«
»Ja …«
»Spätestens dann komme ich mit. Ich möchte sehen, wo du aufgewachsen bist.«
»Natürlich …« Meine Stimme versagt.
»Hast du dich im Flugzeug erkältet?«
Ich räuspere mich. »… Hoffentlich nicht.«
»Du hörst dich so an.«
Warum zähle ich nicht auf, was ich ihm in Hamburg alles zeigen werde?
»Der Abend bei meinem Vater war anstrengend«, sagt Francesco nach einer Weile. »Er hat heute von Annamaria erfahren, dass Daniele ausgezogen ist.«
»Oh, nein …«
»Ich werde morgen mit ihm essen gehen.«
»Wie hat dein Vater reagiert?«
»Er will seine Drohung wahr machen. Am Montag hat er einen Termin beim Anwalt, und dann wird das Testament geändert.«
»Ich meine nicht nur die Frage des Erbes …«
»Darauf konzentriert er sich im Moment, wahrscheinlich, um seine Enttäuschung zu überspielen. Daniele war immer sein Lieblingssohn.«
»Ach … Das wusste ich nicht.«
»Hast du das nie gespürt?«
»Nein.«
»Allein schon die Tatsache, dass Daniele Filmemacher ist, macht ihn in den Augen meines Vaters zu etwas Besonderem.«
»Wieso?«
»Weil bei ihm Kunst mehr zählt als alles andere. Außerdem hat Daniele fünf Kinder …«
Das hätte er nicht erwähnen müssen.
Ich bin hellwach, meine Gedanken kreisen. Francesco ist misstrauisch geworden. Ich habe Harald Jansen meine Karte gegeben, ich kann nicht mehr zurück. Beim nächsten Mal wird Francesco mich nach Hamburg begleiten, ich werde keinen Abstecher in die Rombergstraße oder sonst wohin machen können. Wenn ich Tessa morgen oder übermorgen nicht anrufe, wird Harald Jansen ihr eines Tages sagen, wie sie mich erreichen kann. Warum habe ich ihm nur meine Karte gegeben?
Um halb elf betrete ich Mutters überheiztes Zimmer. Zur Begrüßung zieht sie die linke Augenbraue hoch.
»Es hat etwas länger gedauert, einen Gärtner zu finden«, erkläre ich und öffne das Oberlicht. »Mitte oder Ende nächster Woche wird jemand kommen. Die Rechnung schicken sie mir per Mail zu.«
Mutter betrachtet mich mit ihrem einen Auge. Ich ertrage ihren prüfenden Blick nicht.
»Lass uns nach draußen gehen.«
Sie stößt einen langen, schrillen Ton aus.
»Doch! Die Sonne wird dir guttun.«
Sie zeigt auf das Lätzchen.
»Du brauchst dich nicht zu schämen.«
Tränen laufen ihr über die Wangen.
»Ich könnte dir eine Strickjacke anziehen, dann sieht man das Lätzchen nicht.«
Sie wimmert.
»Fährt Tanja Schmidt dich nie spazieren?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Aber du brauchst frische Luft. Hättest du gern ein Zimmer mit Balkon?«
Wieder ein schriller Ton.
Ich gebe es auf, setze mich in den Sessel, versuche, ganz ruhig zu bleiben.
Mutter greift nach ihrem Block. Soll sie schreiben. Heute werde ich keine Fragen zu meiner Tochter, meinem Mann, meinem Leben beantworten.
Ich begleite dich, sagt Johannes’ Mutter. Danke, ich gehe lieber allein. Bist du dir sicher? Absolut, antworte ich. In der sechsten Stunde haben wir Mathe. Ich denke an das eingenistete Ei. Es wächst. Jeden Tag. Nachher saugen sie es ab. Mir wird übel. Claudia gibt mir einen Knuff. Ich bin dran, weiß nicht, wo wir sind. Der Mathelehrer schnauzt mich an. Ich fange an zu weinen. Reiß dich zusammen, flüstert Claudia. Ich gehe aus der Klasse, rufe den Gynäkologen an, sage den Termin ab. Wie geht es dir?, fragt Johannes nachmittags am Telefon. Unverändert. Was soll das heißen? Ich bin nicht hingegangen. Spinnst du?, schreit er, es war doch alles verabredet! Seine Mutter kommt an den Apparat. Judith, ich weiß, es ist eine schwierige Situation, lass uns miteinander reden. Wir reden, drei Abende lang, beim letzten ist auch Johannes’ Vater dabei. Meine Zweifel verschwinden. Johannes’ Mutter vereinbart einen neuen Termin. Diesmal werde ich hingehen. Ich liege im Bett, Mutter kommt herein, Vater ist nicht zu Hause. Ich habe nachgedacht, sagt sie leise. Worüber?, frage ich. Sie zeigt auf meinen Bauch. Hat sie Vater überreden können? Will sie das Kind aufziehen? In den ersten
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