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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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junge Tante und jedweden Dienstboten des Gutshofes hinweg - nur bei MacKenzie zog er den kürzeren.
    Aber nur knapp. Drohungen, ihn nicht mehr im Stall helfen zu lassen, hatten bisher genügt, um Willies ungezügelten Auftritten
Einhalt zu gebieten, doch früher oder später würden sie ihre Wirkung verlieren, und MacKenzie, der Stallknecht, fragte sich, was ihm wohl blühte, wenn er die Nerven verlieren und den kleinen Teufel verhauen würde.
    Er selbst wäre als junger Kerl besinnungslos geschlagen worden, hätte er es je gewagt, eine Frau so anzureden wie Willie seine Tante und die Hausmädchen. Immer häufiger überkam ihn das Verlangen, den Jungen in eine abgelegene Box zu zerren und ihm Manieren einzubleuen.
    Aber die Freude an dem Knaben überwog. Der Junge betete MacKenzie an, und als er älter wurde, verbrachte er viele Stunden in seiner Gesellschaft. Er ritt die großen Zugpferde und saß im Sommer wagemutig auf den Heuwagen, die von den Weiden hinab ins Tal fuhren.
    Nur eine Gefahr bedrohte den Frieden und verstärkte sich mit jedem Monat. Sie kam ausgerechnet von Willie selbst, und er war ihr gegenüber machtlos.
    »Ein wirklich hübsches kleines Bürschlein! Und was für ein guter Reitersmann.« Diese Bemerkung kam von Lady Grozier. Sie stand mit Lady Dunsany auf der Veranda und bewunderte Willies Reitkünste.
    Liebevoll lächelnd blickte die Großmutter auf den Jungen. »O ja, er liebt sein Pony sehr. Man kann ihn kaum dazu bewegen, zum Essen hereinzukommen. Aber noch lieber hat er seinen Stallburschen. Er verbringt so viel Zeit mit MacKenzie, scherzen wir manchmal, daß er allmählich schon aussieht wie er.«
    Lody Grozier, die den Stallburschen bis dahin natürlich keines Blickes gewürdigt hatte, richtete nun den Blick auf ihn.
    »Sie haben recht!« rief sie höchst amüsiert. »Schauen Sie sich das an. Willie hält den Kopf wie er, und auch die Schulterpartie ist ähnlich. Köstlich!«
    Jamie verbeugte sich ehrerbietig vor den Damen und spürte, wie ihm kalter Schweiß aus den Poren trat.
    Er hatte es kommen sehen, aber nicht glauben wollen, die Ähnlichkeit könnte so auffallend sein, daß sie auch andern ins Auge stach. Willie war ein dickes Baby mit einem Vollmondgesicht gewesen und hatte niemandem ähnlich gesehen. Als er größer wurde, verlor sich das Pummelige, und obwohl er immer noch eine kindliche
Stupsnase hatte, zeichneten sich bereits die hohen, breiten Backenknochen ab. Die graublauen Babyaugen wurden dunkelblau und klar, und sie standen leicht schräg in seinem Gesicht.
    Als die Damen ins Haus zurückgegangen waren und Jamie sicher sein konnte, unbeobachtet zu sein, fuhr er sich über das eigene Gesicht. War die Ähnlichkeit wirklich so groß? Willies Haar war mittelbraun mit einem leicht kastanienfarbenen Schimmer, den es von seiner Mutter hatte. Seine Ohren waren fast transparent - aber seine eigenen konnten doch gewiß nicht so weit abstehen!
    Das Dilemma war, daß Jamie sich seit Jahren nicht mehr deutlich gesehen hatte. Knechte besaßen keine Spiegel, und die Mädchen, die ihm vielleicht einen hätten geben können, hatte er hartnäckig gemieden.
    Er ging zur Wassertränke und beugte seinen Kopf wie zufällig darüber, als beobachtete er die Wasserläufer. Zwischen Strohhalmen, die auf der Oberfläche trieben, und Insekten, die darüber im Zickzack liefen, blickte ihm sein Gesicht entgegen.
    Als er schluckte, bewegte sich sein Adamsapfel. Nein, es war keineswegs eine vollkommene Übereinstimmung, doch die Ähnlichkeit ließ sich nicht verleugnen. Die Kopfform und die Schultern glichen sich, wie Lady Grozier festgestellt hatte. Und vor allem die Augen. Die Fraser-Augen. Sein Vater hatte solche Augen gehabt, und seine Schwester Jenny. Wenn Willie sich erst einmal auswuchs, sich die Stupsnase lang und gerade entwickelte und die Backenknochen noch mehr hervortraten - dann würde es keinen Zweifel mehr geben.
    Als Jamie sich wieder aufrichtete, verschwand das Spiegelbild. Wie blind starrte er auf den Stall, der ihm in den vergangenen Jahren Heimat gewesen war. Obwohl es Juli war und die Sonne heiß brannte, erfaßte ihn ein Kälteschauder.
    Es war an der Zeit, mit Lady Dunsany zu sprechen.
     
    Mitte September waren alle Vorbereitungen getroffen. Die Begnadigung war erwirkt und tags zuvor von John Grey überbracht worden. Jamie besaß etwas Erspartes, das für die Reisekosten ausreichte, und Lady Dunsany hatte ihm ein gutes Pferd zur Verfügung gestellt. Blieb nur noch, sich von den

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