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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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erst, aber dann gab sie ihrem Bedürfnis nach Trost nach und entspannte sich in seiner Umarmung.
    »Mir ist es nie klargeworden«, sagte er. »Bis heute. Erinnerst du dich an all diese Kartons in der Garage?«
    »Welche?« fragte sie. »Dort stehen Hunderte.«
    »Die mit der Aufschrift ›Roger‹. Darin steckt der Krempel meiner Eltern«, sagte er. »Bilder, Briefe, Babysachen und so weiter. Das hat der Reverend aufgehoben, als er mich zu sich nahm. Und behandelt hat er es genauso ehrfürchtig wie kostbare historische Dokumente.«
    Er wiegte sie zart in seinen Armen. »Ich habe ihn mal gefragt, warum er sich die Mühe macht und es aufhebt - ich würde es nicht brauchen und mir nichts daraus machen. Aber er hat gesagt, das würde er aufbewahren, das sei meine Vergangenheit, und jeder Mensch brauche eine Vergangenheit.«
    Brianna seufzte und entspannte sich noch mehr. Ohne es zu merken, fiel sie in sein gleichmäßiges Wiegen ein.
    »Hast du jemals nachgesehen, was in den Kartons ist?«
    Er schüttelte den Kopf. »Darauf kommt es nicht an. Es genügt zu wissen, daß sie da sind.«

    Roger ließ sie los, und Brianna drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war fleckig und ihre lange, gerade Nase ein wenig geschwollen.
    »In einem hast du dich getäuscht«, flüsterte er, während er ihr die Arme entgegenstreckte. »Deine Mutter ist nicht der einzige Mensch auf Erden, dem etwas an dir liegt.«
     
    Brianna war längst zu Bett gegangen, aber Roger saß noch immer im Arbeitszimmer und sah zu, wie die Flammen allmählich herunterbrannten. An Halloween, dem Abend vor Allerheiligen, kam es ihm immer so vor, als ließen ihn die zahllosen Geister, die in einer solchen Nacht zum Leben erwachten, nicht zur Ruhe kommen. Ganz besonders galt das für diese spezielle Nacht, wenn man bedachte, was am nächsten Tag geschehen sollte. Die Kürbislaterne auf dem Schreibtisch grinste verheißungsvoll.
    Der Klang von Schritten auf der Treppe riß Roger aus seinen Gedanken. Zunächst glaubte er, es sei Brianna, die nicht schlafen konnte, doch dann erschien Claire in der Tür.
    »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie noch nicht schlafen«, sagte sie. Ihr Morgenmantel aus Satin schimmerte weiß.
    Roger lächelte und streckte ihr einladend die Hand entgegen. »Nein. An Halloween konnte ich noch nie schlafen. Nicht, nachdem mir mein Vater die Gespenstergeschichten erzählt hatte. Danach hörte ich nur noch Geister vor meinem Fenster flüstern.«
    Claire erwiderte sein Lächeln. »Also, wenn ich Gespenster vor meinem Fenster gehört hätte, hätte ich mich für den Rest der Nacht unter der Bettdecke versteckt.«
    »Das habe ich gewöhnlich auch getan«, versicherte ihr Roger. »Nur einmal, da war ich ungefähr sieben, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen, bin aufgestanden und habe auf die Fensterbank gepinkelt. Der Reverend hatte mir nämlich erzählt, daß man an die Türpfosten pinkeln muß, um die Gespenster fernzuhalten.«
    Claire lachte auf, und fröhliche Funken tanzten in ihren Augen. »Und, hat es gewirkt?«
    »Es hätte wahrscheinlich noch besser gewirkt, wenn ich vorher das Fenster aufgemacht hätte«, sagte Roger. »Aber hereingekommen sind die Gespenster jedenfalls nicht, nein.«

    Sie lachten beide, und dann breitete sich zwischen ihnen jenes Schweigen aus, das im Laufe des Abends schon mehrmals aufgekommen war - immer dann, wenn sie merkten, daß unter dem Drahtseilakt des Gesprächs ein Abgrund gähnte. Claire setzte sich neben Roger und starrte ins Feuer. Ruhelos spielten ihre Finger am Morgenmantel herum.
    »Ich werde auf Brianna aufpassen«, erklärte er schließlich langsam. »Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon, oder?«
    Claire nickte, ohne ihn anzusehen.
    »Ja, ich weiß«, sagte sie leise. Tränen glitzerten in ihren Augen, blieben zitternd an den Wimpern hängen, funkelten im Schein des Feuers. Sie griff in ihre Tasche und zog einen länglichen weißen Umschlag hervor.
    »Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für furchtbar feige«, sagte sie, »und das zu Recht. Aber ich… ich bringe es einfach nicht über mich… mich von Brianna zu verabschieden.« Sie schwieg, um Fassung ringend, und hielt ihm dann den Umschlag entgegen.
    »Ich habe ihr geschrieben. Würden Sie…«
    Roger nahm den Brief. Er war warm von ihrem Körper. Plötzlich verspürte er das seltsame Bedürfnis, ihn nicht kalt werden zu lassen, bevor ihre Tochter ihn bekam, und steckte ihn in seine Brusttasche.
    »Ja«, sagte er, während ihm die Kehle eng

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