Ferne Ufer
hat, aber…«
»Es ist nicht, was du denkst, Ian«, erklärte Jamie knapp.
»Ach, wirklich nicht, aye? Und Jenny hat schon befürchtet, daß du krank wirst, wenn du so lange ohne Frau lebst!« spottete Ian. »Ich werde ihr sagen, daß sie sich um dein Wohlergehen keine Sorgen zu machen braucht. Und wo ist mein Sohn - vielleicht bei einer anderen Dirne am Ende des Flurs?«
»Dein Sohn?« fragte Jamie offensichtlich erstaunt. »Welcher?«
Ian starrte Jamie an, und der Ärger auf seinem Gesicht verwandelte sich in Bestürzung.
»Er ist nicht bei dir? Der kleine Ian ist nicht hier?«
»Der junge Ian? Bei Gott, Mann, glaubst du, ich nehme einen Vierzehnjährigen ins Bordell mit?«
Mit offenem Mund sank Ian auf den Hocker.
»Ehrlich gesagt, Jamie, ich weiß nicht mehr, was ich von dir halten soll«, sagte Ian ruhig. Er musterte seinen Schwager kritisch. »Früher wußte ich es. Aber jetzt nicht mehr.«
»Und was zum Teufel soll das heißen?« Ich sah, wie Jamie die Zornesröte ins Gesicht stieg.
Ian warf einen Blick aufs Bett. Jamie sah immer noch wütend aus, aber um seine Mundwinkel zuckte es. Umständlich beugte er sich zu Ian hinunter.
»Verzeihung, Ian, ich habe keine Manieren. Darf ich dir meine Gefährtin vorstellen?« Er trat ans Bett und zog die Decken weg.
»Nein!« rief Ian, sprang auf und blickte panisch auf den Boden, den Schrank, überallhin, nur nicht aufs Bett.
»Was, willst du meine Frau etwa nicht begrüßen, Ian?«
»Frau?« Ian vergaß wegzusehen und stierte Jamie entsetzt an. »Du hast eine Hure geheiratet?« krächzte er.
»So würde ich es nicht nennen.« Als Ian meine Stimme hörte, warf er den Kopf herum und sah in meine Richtung.
»Hallo.« Aus meinem Nest aus Bettzeug winkte ich ihm fröhlich zu. »Lange her, nicht wahr?«
Die Schilderungen dessen, was Leute tun, wenn sie einen Geist erblicken, hatte ich immer für ziemlich übertrieben gehalten; angesichts der Erfahrungen, die ich nach meiner Rückkehr in die Vergangenheit sammeln durfte, hatte ich meine Meinung jedoch ändern müssen. Jamie war prompt in Ohnmacht gefallen, und wenn Ian auch nicht regelrecht die Haare zu Berge standen, so sah er doch aus, als wäre er zu Tode erschrocken.
Seine Augen traten hervor, und er öffnete den Mund, brachte aber nur ein leises Glucksen hervor, was Jamie offenbar sehr unterhaltsam fand.
»Laß dir das eine Lehre sein und hör auf, schlecht von mir zu denken«, bemerkte Jamie sichtlich zufrieden. Dann erbarmte er sich seines zitternden Schwagers, schenkte ihm einen Schluck Branntwein ein und gab ihm das Glas. »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, oder wie heißt es doch gleich?«
Ich dachte, Ian würde seinen Weinbrand verschütten, aber er schaffte es, das Glas zum Mund zu führen und zu schlucken.
»Was…?« stieß er keuchend hervor. Das Wasser trat ihm in die Augen, als er mich anstarrte. »Wie…?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich mit einem Seitenblick auf Jamie. Er nickte. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatten wir Wichtigeres zu bedenken gehabt, als uns zu überlegen, wie wir anderen meine Anwesenheit erklären sollten. Und unter den gegebenen Umständen konnte das ruhig noch etwas warten, fand ich.
»Ich glaube nicht, daß ich den jungen Ian kenne. Wird er vermißt?« fragte ich höflich.
Ian nickte mechanisch, ohne den Blick von mir zu wenden.
»Er ist am Freitag vor einer Woche von zu Hause ausgerissen.« Ian wirkte ziemlich benommen. »Er hat einen Brief dagelassen, er ginge zu seinem Onkel.« Er nahm noch einen Schluck Branntwein, hustete und blinzelte mehrmals, dann wischte er sich die Augen und setzte sich aufrecht hin.
»Es ist nicht das erstemal, weißt du«, sagte er zu mir. Allmählich schien er sich zu beruhigen, da ich keinerlei Anstalten machte, mir den Kopf unter den Arm zu klemmen, wie es Hochlandgespenster sonst zu tun pflegten.
Jamie setzte sich neben mich aufs Bett und nahm meine Hand.
»Ich habe den jungen Ian nicht mehr gesehen, seit ich ihn vor sechs Monaten mit Fergus heimgeschickt habe«, erklärte er. Allmählich sah er ebenso besorgt aus wie Ian. »Bist du sicher, daß er zu mir kommen wollte?«
»Soweit ich weiß, hat er sonst keinen Onkel«, sagte Ian ziemlich barsch. Er kippte den Rest seines Branntweins hinunter und stellte das Glas ab.
»Fergus?« fragte ich dazwischen. »Fergus geht es also gut?« Ich freute mich, den Namen des französischen Waisenkinds zu hören, das Jamie in Paris als Taschendieb
Weitere Kostenlose Bücher