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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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du?« erkundigte ich mich.
    Der Junge überlegte sich die Antwort gründlich, dann erwiderte er vorsichtig: »Ian Murray.«
    »Ian Murray?« Ich schoß in die Höhe und rettete im letzten Moment das Laken. »Komm herein«, befahl ich. »Wenn du der bist, für den ich dich halte, warum bist du dann nicht da, wo du hingehörst, und was machst du überhaupt hier?« Der Junge wirkte ziemlich beunruhigt und sah aus, als wollte er sich zurückziehen.

    »Halt!« rief ich und setzte schon einen Fuß aus dem Bett, um ihn zu verfolgen. Die braunen Augen weiteten sich beim Anblick meines nackten Beins, und der Junge blieb wie angewurzelt stehen. »Komm rein, hab’ ich gesagt!«
    Langsam zog ich meinen Fuß wieder unter die Decken, und ebenso langsam trat er ins Zimmer.
    Er war groß und dünn wie ein junger Storch - etwa hundertzehn Pfund auf eine Länge von einen Meter achtzig. Da ich nun wußte, wen ich vor mir hatte, war die Ähnlichkeit mit seinem Vater unverkennbar. Wie seine Mutter hatte er eine blasse Haut, die sich jedoch puterrot färbte, als ihm plötzlich klarwurde, daß er neben einem Bett mit einer nackten Frau darin stand.
    »Ich… äh… ich suche meinen… ich suche Mr. Malcolm, meine ich«, murmelte er und starrte unentwegt auf die Dielenbretter zu seinen Füßen.
    »Wenn du deinen Onkel Jamie meinst, er ist nicht hier«, sagte ich.
    »Nein. Das hab’ ich mir auch gedacht.« Offensichtlich wußte er nun nichts mehr zu sagen. Er hielt einen Fuß unbeholfen angewinkelt, als wollte er ihn hochziehen wie der Stelzvogel, mit dem er soviel Ähnlichkeit besaß.
    »Wissen Sie, wo…«, begann er, sah mich kurz an, senkte aber gleich wieder den Blick, errötete und verstummte.
    »Er sucht dich«, sagte ich, »zusammen mit deinem Vater. Es ist keine halbe Stunde her, daß sie aufgebrochen sind.«
    »Mein Vater?« stieß er keuchend hervor. »Mein Vater war hier? Kennen Sie ihn?«
    »O ja«, erwiderte ich, ohne nachzudenken. »Ich kenne Ian schon ziemlich lange.«
    Der Junge mochte ja Jamies Neffe sein, aber den Trick mit der undurchschaubaren Miene beherrschte er noch nicht. Jeder Gedanke stand ihm ins Gesicht geschrieben, und es war nicht schwer zu erraten, was jetzt in ihm vorging: der Schock angesichts der Nachricht, daß sein Vater in Edinburgh weilte, dann eine Art ehrfürchtiges Entsetzen über die Enthüllung, daß dieser seit langem mit einer Frau von zweifelhaftem Ruf bekannt war, und schließlich zornige Konzentration, als er die Meinung, die er von seinem Vater hatte, zu revidieren begann.

    Ich räusperte mich leicht beunruhigt. »Es ist nicht, was du denkst. Ich meine, dein Vater und ich… das heißt eigentlich geht es um deinen Onkel und mich, ich meine…« Während ich noch versuchte, mir eine Erklärung auszudenken, ohne noch gefährlicheren Boden zu betreten, drehte er sich auf dem Absatz um und strebte auf die Tür zu.
    »Einen Augenblick«, sagte ich. Er blieb stehen, wandte sich aber nicht zu mir um. Seine Ohren standen ab wie kleine Flügel und leuchteten rosig in der Morgensonne. »Wie alt bist du?« fragte ich.
    Verlegen, aber würdevoll sah er mich an. »In drei Wochen werde ich fünfzehn«, sagte er. Wieder stieg ihm die Röte ins Gesicht. »Keine Sorge, ich bin alt genug, um zu wissen - was für ein Haus das ist.« Er verbeugte sich hastig.
    »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Mistreß. Wenn Onkel Jamie… ich meine, ich…« Er suchte nach den rechten Worten, wurde aber nicht fündig. Schließlich platzte er heraus: »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Madam!« drehte sich um und polterte zur Tür hinaus, die mit einem Knall hinter ihm zuschlug.
    Ich sank in die Kissen zurück, hin- und hergerissen zwischen Belustigung und Sorge. Ich fragte mich, was Ian, der Ältere, seinem Sohn erzählen würde, wenn sie sich begegneten - und umgekehrt. Und da ich gerade am Überlegen war, fragte ich mich noch, was Ian, den Jüngeren, hierhergeführt hatte. Offensichtlich wußte er, daß sein Onkel oft hier anzutreffen war, doch seiner Schüchternheit nach zu urteilen, hatte er sich nie zuvor in das Bordell hineingewagt.
    Hatte Geordie in der Druckerei ihm die Adresse genannt? Das war unwahrscheinlich. Aber wenn Ian es nicht von ihm hatte, mußte er aus anderer Quelle erfahren haben, daß sein Onkel Verbindungen zu diesem Haus pflegte. Und diese Quelle war höchstwahrscheinlich Jamie selbst.
    Aber in diesem Fall, so folgerte ich, wußte Jamie, daß sein Neffe in Edinburgh war, warum also

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