Ferne Ufer
die einen verloren geglaubten Schatz enthielt. Ich spürte ihr erfreuliches Gewicht, betastete sie von außen und schätzte mich glücklich, sie zu besitzen, aber ich wußte nicht genau, was sie eigentlich enthielt.
Ich hätte viel darum gegeben zu erfahren, was er in all den Jahren getan und gesagt und gedacht hatte. Mir war natürlich klar gewesen, daß sein Leben, falls er Culloden überstand, weitergegangen
war - und soweit ich Jamie Fraser kannte, war es kein einfaches Leben gewesen. Aber es zu wissen oder leibhaftig daran teilzuhaben waren zwei Paar Stiefel.
Lange Zeit hatte er einen festen Platz in meiner Erinnerung gehabt, leuchtend, aber reglos wie ein in Bernstein gefangenes Insekt. Und dann kamen Rogers kurze historische Schnappschüsse - einzelne Bilder, ergänzende Eindrücke, Berichtigungen der Erinnerungen, die die Flügel der Libelle in verschiedenen Neigungswinkeln zeigten, ähnlich den einzelnen Bildern eines Films. Jetzt hatte unsere gemeinsame Zeit wieder begonnen, und ich sah die Libelle fliegen, bald hierhin, bald dorthin huschen, so daß ich kaum mehr wahrnahm als den Glanz ihrer Flügel.
Es gab noch so viele Fragen, die keiner von uns hatte stellen können - wie war es seiner Familie in Lallybroch ergangen, seiner Schwester Jenny und ihren Kindern? Offensichtlich war Ian am Leben und wohlauf, unbeschadet seines Holzbeins - aber hatten der Rest der Familie und die Pächter des Anwesens die Zerstörung der Highlands überlebt? Und wenn ja, warum war Jamie dann hier in Edinburgh?
Und wenn sie am Leben waren - wie sollten wir ihnen mein plötzliches Wiederauftauchen erklären? Ich biß mir auf die Lippe und fragte mich, ob überhaupt eine glaubhafte Erklärung denkbar war - abgesehen von der Wahrheit. Das hing auch davon ab, was Jamie den anderen erzählt hatte, als ich nach der Schlacht von Culloden verschwand. Damals war es eigentlich nicht notwendig, sich einen Grund für mein Verschwinden auszudenken; es schien naheliegend, daß ich eine von den vielen namenlosen Leichen war.
Aber diese Frage würden wir klären, wenn es soweit war. Was mich im Augenblick mehr beschäftigte, war das Ausmaß von Jamies gesetzlosem Treiben. Schmuggeln und Aufwiegelung, wenn ich ihn recht verstanden hatte. Schmuggeln war eine ebenso ehrenhafte Betätigung wie vor zwanzig Jahren der Viehdiebstahl im schottischen Hochland und vergleichsweise ungefährlich. Aber Aufwiegelung war etwas anderes - und für einen verurteilten jakobitischen Verräter ein wohl nicht gerade harmloser Zeitvertreib.
Vermutlich war dies auch einer der Gründe, warum er einen anderen Namen angenommen hatte. Trotz meiner Aufregung war mir am Vorabend aufgefallen, daß Madame Jeanne ihn mit seinem
richtigen Namen angesprochen hatte. Wahrscheinlich schmuggelte er als James Fraser, während er seine Verlegertätigkeit - legal oder illegal - unter dem Namen Alexander Malcolm ausübte.
In den allzu kurzen Stunden unserer gemeinsamen Nacht hatte ich genug gesehen, gehört und gefühlt, um zu wissen, daß es den Jamie Fraser, den ich gekannt hatte, noch gab. Wie viele Persönlichkeiten er darüber hinaus verkörperte, blieb abzuwarten.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riß mich aus meinen Gedanken. Frühstück, dachte ich, und es kommt keine Minute zu früh. Ich hatte einen Bärenhunger.
»Herein«, rief ich, setzte mich im Bett auf und schob die Kissen zurecht, um mich anzulehnen.
Ganz langsam öffnete sich die Tür, und nach einiger Zeit schob sich ein Kopf durch den Spalt - so vorsichtig wie eine Schnecke, die sich nach einem Hagelschauer zum erstenmal wieder aus dem Haus wagt.
Zuerst sah ich nur einen schlecht geschnittenen braunen Haarschopf, der so dicht war, daß die Unterkante wie ein Dachgesims über die großen Ohren ragte. Das Gesicht darunter war schmal, knochig und unauffällig, abgesehen von den schönen, braunen Augen, die so sanft waren wie die eines Rehs und mich halb neugierig, halb zögernd anblickten.
Eine Weile sahen wir uns stumm an.
»Sind Sie Mr. Malcolms… Frauenzimmer?« fragte der Besucher.
»So könnte man wohl sagen«, erwiderte ich vorsichtig. Offensichtlich war das nicht das Dienstmädchen mit dem Frühstück. Und wahrscheinlich gehörte der Besucher auch nicht zur Belegschaft des Etablissements, da er offensichtlich männlich, wenn auch sehr jung war. Irgendwie kam er mir bekannt vor, obwohl ich ihm gewiß noch nie begegnet war. Ich zog das Laken über meinen Brüsten ein bißchen höher. »Und wer bist
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