Ferne Ufer
zu machen, seine Eltern vorher um Erlaubnis zu bitten. Jamie war ziemlich schnell dahintergekommen, wollte aber seinen Neffen nicht allein nach Lallybroch zurückschicken, und er hatte keine Zeit gefunden, ihn persönlich zu begleiten.
»Im Grunde kann er ganz gut auf sich aufpassen«, erklärte Jamie nun doch mehr amüsiert als wütend. »Er ist ein geschickter Bursche. Es ist nur - nun, du weißt doch, es gibt Leute, die bestimmte Ereignisse nur so anziehen.«
»Jetzt, wo du es erwähnst«, erwiderte ich sarkastisch, »ich glaube, daß ich auch zu denen gehöre.«
Er lachte laut auf. »Da hast du recht, Sassenach! Vielleicht mag ich den jungen Ian deshalb so gern, weil er mich an dich erinnert.«
»Mich hat er eher an dich erinnert«, bemerkte ich.
»Bei Gott, Jenny wird mich vierteilen, wenn sie hört, daß sich ihr kleiner Sohn in einem verrufenen Haus herumgetrieben hat. Ich hoffe, der Schelm hat genug Verstand, um den Mund zu halten, wenn er erst wieder daheim ist.«
»Und ich hoffe, daß er auch wirklich dort ankommt.« Ich stellte mir vor, wie der schlaksige Vierzehnjährige, den ich am Morgen kennengelernt hatte, sich in Edinburgh herumtrieb, wo es nur so von Prostituierten, Zollbeamten, Schmugglern und messerschwingenden Teufeln wimmelte. »Wenigstens ist er kein Mädchen«, fügte ich hinzu. »Der Teufel findet anscheinend keinen Geschmack an Jungen.«
»Aye, da gibt’s genug andere«, bemerkte Jamie verdrießlich. »Bei den Sorgen, die der junge Ian und du mir machen, kann ich von Glück reden, wenn meine Haare nicht schlohweiß sind, sobald wir aus diesem verdammten Keller rauskommen.«
»Ich?« fragte ich überrascht. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
»Brauche ich nicht?« Er ließ meinen Arm los und starrte mich empört an. »Habe ich recht verstanden? Himmel! Ich lasse dich sicher aufgehoben im Bett zurück, und keine Stunde später finde ich dich im Hemd mit einer Leiche an der Brust! Und jetzt stehst du splitternackt vor mir, während sich die fünfzehn Männer da drüben fragen, wer du überhaupt bist - und wie soll ich ihnen das
erklären, Sassenach? Das verrat mir mal!« Ärgerlich fuhr er sich durch die Haare. »Herrgott! Und in zwei Tagen muß ich auf jeden Fall an die Küste, aber ich kann dich nicht in Edinburgh zurücklassen, nicht solange hier Teufel mit Messer lauern und fast jeder, der dich gesehen hat, glaubt, du wärst eine Prostituierte, und… und…« Das Band, das seinen Zopf hielt, löste sich plötzlich, und seine Haare wallten um seinen Kopf wie eine Löwenmähne. Ich lachte. Er starrte mich wütend an, doch nach einer Weile gewann ein widerstrebendes Grinsen die Oberhand.
»Aye«, seufzte er resigniert. »Ich denke, ich werde es irgendwie schaffen.«
»Das glaube ich auch«, sagte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm die Haare aus der Stirn zu streichen. Wie durch magnetische Kräfte angezogen, beugte er sich über mich und küßte mich.
»Ich hatte es vergessen«, sagte er dann.
»Was hast du vergessen?«
»Alles«, sagte er leise in mein Haar. »Freude. Angst. Vor allem die Angst.« Er glättete die Locken, die ihn an der Nase kitzelten.
»Ich habe lange keine Angst mehr gehabt, Sassenach«, flüsterte er. »Aber jetzt habe ich Angst. Denn jetzt habe ich wieder etwas zu verlieren.«
Ich sah zu ihm auf. Er hielt meine Taille fest umschlungen, und seine Augen waren dunkel. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er küßte mich rasch auf die Stirn.
»Komm, Sassenach.« Er nahm meinen Arm. »Ich sage den Männern, daß du meine Frau bist. Für den Rest der Geschichte ist jetzt keine Zeit.«
27
Lichterloh
Das Kleid war ein wenig tiefer ausgeschnitten als nötig und um die Brust ein bißchen eng, aber insgesamt paßte es gut.
Jamie warf einen anerkennenden Blick auf meinen Busen und winkte der Kellnerin, die einen Holzteller mit frischen Haferkuchen vorbeitrug.
In Moubray’s Taverne herrschte reges Treiben. Sie war um einiges feiner als das gemütliche, verrauchte World’s End. Moubray’s war ein großes, elegantes Gasthaus mit einer Außentreppe, die in den ersten Stock führte, wo die wohlhabenden Kaufleute und Beamten Edinburghs in einem geräumigen Gastraum speisten.
»Wer bist du jetzt gerade?« fragte ich. »Madame Jeanne hat dich ›Monsieur Fraser‹ genannt - heißt du in der Öffentlichkeit nun doch Fraser?«
Er schüttelte den Kopf und brockte sich einen Haferkuchen in seine Schale. »Nein, im
Weitere Kostenlose Bücher