Ferne Ufer
der langsam und kräftig schlug.
»Ach, diesmal sind es zwei Tage.« Mit erwachendem Interesse betrachtete Miss Cowden das Gesicht ihres Schützlings. »Gewöhnlich dauert dieser Zustand eine Woche oder etwas länger - das längste waren bisher dreizehn Tage.«
Langsam und vorsichtig - obwohl Miss Campbell wohl kaum aus der Ruhe zu bringen war - begann ich mit meiner Untersuchung, während ich gleichzeitig ihrer Pflegerin Fragen stellte. Miss Margaret Campbell war siebenunddreißig, die einzige Verwandte
von Reverend Archibald Campbell, mit dem sie seit dem Tod ihrer Eltern vor zwanzig Jahren zusammenlebte.
»Wissen Sie, was sie in diesen Zustand versetzt?«
Miss Cowden schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht sagen, Madam. Das passiert wie von selbst. Erst schaut sie sich um, redet, lacht, ißt brav ihr Essen, das liebe Kind, und im nächsten Augenblick - ist’s aus und vorbei!« Sie schnalzte mit den Fingern, um ihre Worte zu unterstreichen, beugte sich vor und wiederholte die Geste nochmals direkt unter Miss Campbells Nase.
»Sehen Sie? Es könnten sechs Männer mit Trompeten durch die Kammer marschieren, und sie würde nicht darauf achten.«
Obwohl ich mir ziemlich sicher war, daß Miss Campbells Leiden seelischer und nicht körperlicher Natur war, untersuchte ich sie sorgfältig.
»Am schlimmsten ist es aber, wenn sie da wieder rauskommt«, versicherte mir Miss Cowden, die neben mir in die Hocke ging, während ich Miss Campbells Fußsohlenreflexe prüfte. Ihre Füße, von Schuhen und Strümpfen befreit, waren feucht und rochen muffig.
Ich fuhr bei beiden Füßen nacheinander mit dem Fingernagel fest über die Fußsohle, um einen etwaigen Babinskireflex aufzuspüren, der Hinweise auf eine Hirnverletzung geben konnte. Doch sie zeigte die normale Reaktion und rollte die Zehen ein.
»Was geschieht dann? Fängt sie an zu schreien, wie der Reverend gesagt hat?« Ich stand auf. »Würden Sie mir eine brennende Kerze bringen?«
»Aber ja, das Schreien.« Miss Cowden zündete ein Wachslicht am Feuer an. »Sie brüllt dann ganz grauenhaft, in einem fort, bis sie völlig erschöpft ist. Dann schläft sie ein, schläft rund um die Uhr und wacht auf, als wäre nichts passiert.«
»Und es geht ihr gut, wenn sie aufwacht?« fragte ich. Ich bewegte die Kerze einige Zentimeter vor den Augen der Patientin hin und her. Die Pupillen reagierten auf das Licht, aber die Iris blickte starr geradeaus, ohne der Flamme zu folgen. Zu gern hätte ich jetzt einen Augenspiegel zur Hand gehabt, um die Netzhaut zu untersuchen, doch auf solchen Luxus mußte ich verzichten.
»Daß es ihr richtig gutgeht, kann man nicht behaupten«, meinte Miss Cowden bedächtig. Ich drehte mich zu ihr um, und sie zuckte
mit den Achseln. Unter ihrer Leinenbluse zeichneten sich kräftige Schultern ab.
»Sie ist nicht ganz richtig im Kopf, das arme Kind«, sagte sie sachlich. »Das geht jetzt an die zwanzig Jahre so.«
»Gewiß haben Sie Miss Campbell nicht die ganze Zeit gepflegt?«
»Aber nein! Mr. Campbell hatte eine Frau angestellt, die für sie gesorgt hat, als sie noch in Burntisland gewohnt haben, aber die Frau war auch nicht mehr die Jüngste und wollte nicht von daheim weg. Als sich der Reverend dann entschloß, das Angebot der Missionarsgesellschaft anzunehmen und seine Schwester nach Westindien mitzunehmen, hat er für sie eine Zofe gesucht, eine kräftige Frau von gutem Charakter, die nichts gegen das Reisen hat… und hier bin ich.« Überzeugt von ihren Vorzügen, entblößte sie lächelnd ihr lückenhaftes Gebiß.
»Westindien? Er hat vor, Miss Campbell zu den westindischen Inseln zu bringen?« Ich war sprachlos - eine solche Seereise wäre selbst für eine gesunde Frau eine Prüfung gewesen. Diese Kranke - aber dann besann ich mich. Alles in allem würde Margaret Campbell eine solche Reise vielleicht besser überstehen als manch andere - zumindest solange sie sich in Trance befand.
»Er dachte, die Luftveränderung könnte ihr guttun«, erklärte Miss Cowden. »Sie von Schottland wegzubringen und von all den grausigen Erinnerungen. Das hätte er schon längst tun sollen, wenn Sie mich fragen.«
»Welche grausigen Erinnerungen?« fragte ich. Das Glitzern in Miss Cowdens Augen verriet mir, daß sie nur allzugern bereit war, mir davon zu erzählen. Ich hatte meine Untersuchung inzwischen beendet und war zu dem Schluß gekommen, daß Miss Campbell körperlich wohlauf war. Vielleicht legte ihre Vergangenheit eine mögliche Behandlung
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