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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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staunend sah ihn Ian an.
    »Wie lange warst du nicht mehr beim Beichten, Onkel?« fragte er.
    »Sehr lange«, erwiderte Jamie knapp. »Kommt weiter!«
     
    Nach dem Essen hatte Jamie eine Verabredung mit einem Mr. Harding, einem Vertreter der Gesellschaft, die das Gebäude der Druckerei versichert hatte. Sie wollten gemeinsam die Überreste des Hauses begutachten und die Schadenshöhe feststellen.
    »Dabei brauche ich dich nicht, Kleiner«, beruhigte er Ian, der wenig Begeisterung zeigte, den Schauplatz seiner Abenteuer noch einmal aufzusuchen. »Du gehst mit deiner Tante zu dieser Irren.«
    »Ich weiß nicht, wie du es anstellst«, sagte er mit hochgezogenen Brauen. »Du bist keine zwei Tage in der Stadt, und alle
Kranken im Umkreis von Meilen hängen sich an deinen Rockzipfel.«
    »Alle wohl kaum. Es ist schließlich nur eine Frau, und ich war noch nicht einmal bei ihr.«
    »Aye. Wenigstens ist Irrsinn nicht ansteckend - hoffe ich.« Er küßte mich, wandte sich dann zum Gehen und klopfte Ian kameradschaftlich auf die Schulter. »Kümmere dich um deine Tante, Ian.«
    Ian sah seinem Onkel versonnen nach.
    »Möchtest du mit ihm gehen, Ian?« fragte ich. »Ich komme allein zurecht, wenn du…«
    »Aber nein, Tante!« Beschämt sah er mich an. »Ich wollte auf keinen Fall mit. Es ist nur - ich habe mich gefragt - na ja, ob sie… etwas finden? In der Asche?«
    »Eine Leiche meinst du?« Mir war natürlich klar, daß Jamie dem Jungen genau aus diesem Grunde aufgetragen hatte, mich zu begleiten.
    Der Junge nickte unbehaglich.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wenn das Feuer sehr heiß war, ist möglicherweise nicht mehr viel von ihm übrig. Aber mach dir deshalb keine Sorgen. Dein Onkel bringt das schon in Ordnung.«
    »Aye, da hast du recht.« Seine Miene hellte sich auf: Offenbar glaubte er fest daran, daß sein Onkel jede Situation meistern könne. Ich lächelte, aber dann stellte ich überrascht fest, daß ich diese Überzeugung teilte. Seien es betrunkene Chinesen, korrupte Zollbeamte oder Mr. Harding von der Versicherungsgesellschaft, ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß Jamie damit fertig wurde.
    »Komm jetzt«, sagte ich, als die Glocke der Kirche am Canongate zu läuten begann. »Es ist fast zwei.«
    Die Pension in der Carrubber’s Close war ruhig, für Edinburgher Verhältnisse jedoch ziemlich luxuriös: Auf der Treppe lag ein gemusterter Teppich, und die Fenster zur Straße waren aus Buntglas. Eine vornehme Unterkunft für einen Geistlichen, fand ich, aber andererseits wußte ich nicht viel über die Pastoren der Freikirche - vielleicht legten sie kein Armutsgelübde ab wie ihre katholischen Kollegen.
    Ein Junge führte uns in den dritten Stock, wo uns sogleich eine
kräftige Frau mit besorgtem Gesicht die Tür öffnete. Sie mochte Mitte Zwanzig sein, hatte aber bereits mehrere Zähne verloren.
    »Sie sind bestimmt die Dame, von der der Reverend gesprochen hat?« fragte sie. Als ich nickte, hellte sich ihr Gesicht ein wenig auf, und sie ließ mich ein.
    »Mr. Campbell mußte fort«, sagte sie im breiten Dialekt der Lowlands, »aber er hat gesagt, daß er sehr dankbar wäre, wenn Sie ihm wegen seiner Schwester raten würden.«
    Die Schwester also, nicht die Gattin. »Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte ich. »Darf ich Miss Campbell sehen?«
    Ich ließ Ian im Wohnzimmer zurück, wo er ungestört seinen Erinnerungen nachhängen konnte, und begleitete die Frau, die sich als Nelly Cowden vorstellte, in das hintere Schlafzimmer.
    Wie der Reverend bereits geschildert hatte, starrte Miss Campbell vor sich hin. Sie hatte ihre hellblauen Augen weit aufgerissen, schien aber nichts wahrzunehmen - und schon gar nicht mich.
    Sie saß mit dem Rücken zum Feuer in einem breiten, niedrigen Sessel. Im Raum war es düster, so daß ihre Züge, abgesehen von den reglosen Augen, undeutlich blieben. Als ich zu ihr trat, sah ich jedoch, daß sie ein weiches, rundes Gesicht und feine, braune Haare hatte, die ordentlich gebürstet waren. Sie hatte eine Stupsnase und ein Doppelkinn, und ihr rosiger Mund war so schlaff, daß seine natürliche Form nicht zu erkennen waren.
    »Miss Campbell?« sagte ich leise. Die rundliche Gestalt reagierte nicht. Wie mir nun auffiel, blinzelte sie gelegentlich, aber viel seltener als normal.
    »Sie gibt keine Antwort, wenn sie in diesem Zustand ist«, bemerkte Nelly Cowden. »Kein einziges Wort.«
    »Wie lange ist sie schon so?« Ich nahm ihre schlaffe, mollige Hand und fühlte den Puls,

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