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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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mit ihm, außer sein Bruder - und Hector. Der treue Hector.
    Grey seufzte und rieb die Wange am Kissen. Wann immer er wollte, konnte er Hector vor seinem inneren Auge heraufbeschwören. Die schwarzen Haare, die blauen Augen, die stets lächelnden weichen Lippen. Obwohl Hector schon vor zehn Jahren gestorben war, in der Schlacht von Culloden von dem Breitschwert eines Schotten in Stücke gehauen, wachte John zuweilen in der Morgendämmerung auf und spürte, den Körper in lustvoller Erregung gekrümmt, Hectors Berührung.
    Und jetzt das. Er hatte sich vor diesem Posten gefürchtet, umgeben von Schotten und ihren rauhen Stimmen und der unauslöschlichen Erinnerung an das, was sie Hector angetan hatten! Niemals, auch nicht in den schlimmsten Vorstellungen, war ihm jedoch der Gedanke gekommen, er könnte James Fraser noch einmal begegnen.
    Das Feuer verglomm zu heißer Asche, und das tiefe Schwarz vor dem Fenster wich langsam dem fahlen Grau einer trüben, regennassen schottischen Morgendämmerung. John Grey blickte, noch immer schlaflos, auf die rauchgeschwärzten Balken über ihm.

     
    Am Morgen stand er unausgeruht, aber entschlossen auf. Er war hier. Und Fraser auch. Und keiner von ihnen konnte in absehbarer Zeit verschwinden. So war die Lage. Hin und wieder würde er gezwungen sein, den Mann zu treffen - in einer Stunde sollte er vor den Gefangenen sprechen und sie von da an in regelmäßigen Abständen inspizieren -, aber er würde nicht privat mit ihm zusammenkommen. Wenn er den Mann auf Abstand hielt, konnte es ihm vielleicht auch gelingen, die Erinnerungen in Schach zu halten. Und die Gefühle.
    Zwar hatte ihn zu Beginn der Rückblick auf seine ehemalige Wut und Demütigung wachgehalten, doch seit dem Morgengrauen ließ ihn eine andere Erkenntnis nicht zur Ruhe kommen: Fraser war sein Gefangener, nicht mehr sein Peiniger, ein Häftling wie jeder andere auch und voll und ganz von seiner Gnade abhängig.
    Er klingelte nach dem Burschen und ging zum Fenster. Es regnete wie erwartet. Im Hof wurden die Häftlinge gerade in Arbeitstrupps eingeteilt. Sie waren bis auf die Haut durchnäßt. Frierend zog Grey den Kopf zurück.
    Der Gedanke an Rache hatte ihn nicht losgelassen. Während er sich im Bett herumgeworfen hatte, hatte er sich vorgestellt, wie man Fraser in einer kalten Winternacht nackt in der eisigen, winzigen Zelle hielt. Seine Nahrung bestand aus Wassersuppe, und man peitschte ihn im Gefängnishof aus. Die Arroganz gebrochen, nur noch unterwürfiges Elend, allein von Greys Befehl abhängig.
    Das war es, was Grey sich voll Genugtuung ausmalte. Er hörte Fraser um Gnade flehen und sich stolz ablehnen. Er gab sich diesen Gedanken hin, bis sich die dornenbesetzte Keule in seinen Eingeweiden herumdrehte und die Selbstverachtung ihn durchbohrte.
    Was Fraser für Grey einst dargestellt hatte, jetzt war er ein Kriegsgefangener und der Krone unterstellt. Er war Grey unterstellt; sein Wohlergehen war eine Ehrenpflicht.
    Der Bursche hatte heißes Wasser zum Rasieren gebracht. Grey benetzte seine Wangen und spürte, wie sich die wohltuende Wärme über die Hirngespinste der Nacht legte. Denn nichts anderes waren sie gewesen, gestand er sich ein, und diese Erkenntnis brachte ihm eine gewisse Erleichterung.
    Wäre er bei einer Schlacht auf Fraser gestoßen, hätte er ihn mit wildem Vergnügen zum Krüppel gemacht oder getötet. Aber solange
er sein Gefangener war, konnte er ihm nichts anhaben. Nachdem er sich rasiert und sein Bursche ihn angekleidet hatte, fühlte er sich so weit wiederhergestellt, daß er die Situation mit einem gewissen Galgenhumor betrachten konnte.
    Sein eigenes törichtes Verhalten in Carryarrick hatte Fraser nach Culloden das Leben gerettet. Nun war diese Schuld abgetragen und Fraser in seiner Gewalt. Und gerade weil Fraser als sein Gefangener völlig hilflos war, war er in Sicherheit. Alle Greys waren Ehrenmänner - ob töricht oder klug, naiv oder erfahren.
    Als er sich nun ein wenig erholt hatte, wagte er einen Blick in den Spiegel, rückte die Perücke zurecht und begab sich zum Frühstück, bevor er seine erste Rede vor den Gefangenen hielt.
     
    »Möchten Sie das Abendessen im Salon serviert bekommen, Sir, oder hier?« MacKays ungekämmter Schopf erschien in der Tür.
    »Wie?« murmelte Grey, vertieft in die Papiere, die auf seinem Schreibtisch verstreut lagen. »Ach so«, sagte er und blickte auf. »Hier, wenn ich bitten darf.« Er wandte sich erneut seiner Arbeit zu und sah nur kurz auf,

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