Ferne Ufer
»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«
Der Schotte neigte höflich den Kopf, antwortete jedoch nicht, daß ihm keine andere Wahl geblieben war. Nur seine Augen verrieten ihn.
»Sicher werden Sie sich fragen, weshalb ich Sie habe holen lassen«, sagte Grey. Er hörte selbst, wie überheblich seine Worte klangen, konnte sich jedoch nicht helfen. »Es haben sich Umstände ergeben, in denen ich Ihre Hilfe brauche.«
»Welche Umstände, Major?« Frasers Stimme klang wie damals - tief und klar, mit dem Anflug eines schottischen Akzents.
Grey atmete tief durch. Er hätte alles dafür gegeben, nicht auf diesen Mann angewiesen zu sein, aber Fraser war seine einzige Hoffnung.
»Im Moor, unweit der Küste, hat man einen Wanderer gefunden«, erklärte er vorsichtig. »Er scheint ernstlich krank zu sein und redet wirres Zeug. Er erwähnt jedoch… Angelegenheiten, die vermutlich… für die Krone von erheblicher Bedeutung sind. Ich muß mit ihm reden und soviel wie möglich in Erfahrung bringen.«
Er hielt inne, aber Fraser rührte sich nicht. Er wartete ab.
»Leider«, fuhr Grey fort und holte erneut tief Luft, »spricht der Mann Gälisch und Französisch durcheinander und dazwischen nur das eine oder andere Wort Englisch.«
»Ich verstehe, Major.« Die Stimme des Schotten triefte vor Ironie. »Sie möchten übersetzt haben, was der Mann sagt.«
Da Grey seiner Stimme nicht traute, nickte er nur heftig.
»Ich fürchte, ich muß Ihnen diese Bitte abschlagen«, entgegnete Fraser respektvoll. Nur das Funkeln in seinen Augen strafte seine höfliche Haltung Lügen. Greys Hand schloß sich fest um den Brieföffner aus Messing, der auf dem Löschblatt lag.
»Abschlagen?« wiederholte er. »Darf ich fragen, weshalb, Mr. Fraser?«
»Ich bin ein Gefangener, Major«, erwiderte der Schotte höflich. »Kein Dolmetscher.«
»Wir würden Ihre Mithilfe zu würdigen wissen.« Grey versuchte, seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ohne daß sie nach Erpressung klangen. »Andererseits…« - er schlug einen härteren Ton an -, »eine berechtigte Hilfeleistung zu versagen…«
»Sie sind weder berechtigt, meine Dienste zu erzwingen, noch mich zu bedrohen, Major.« Frasers Stimme klang weitaus schärfer als die des Majors.
»Ich habe Sie nicht bedroht!« Die Kante des Brieföffners schnitt ihm in die Hand.
»Nicht? Na, das freut mich.« Fraser wandte sich zur Tür. »In diesem Fall, Major, wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.«
Nur zu gerne hätte Grey ihn einfach gehen lassen. Doch die Pflicht verlangte anderes von ihm.
»Mr. Fraser!« Der Schotte blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
Grey holte tief Luft.
»Wenn Sie meiner Bitte nachkommen, lasse ich Ihnen die Ketten abnehmen«, erklärte er.
Fraser rührte sich nicht. Grey mochte jung und unerfahren sein, aber er war kein schlechter Beobachter. Als der Gefangene den Kopf hob und die Schultern anspannte, spürte der Major für einen Augenblick die Angst weichen, die von ihm Besitz ergriffen hatte, seit von dem Wanderer die Rede gewesen war.
»Mr. Fraser?« hakte er nach.
Langsam und mit ausdruckslosem Gesicht drehte sich der Schotte um.
»Abgemacht«, sagte er leise.
Es war weit nach Mitternacht, als sie das Dorf Ardsmuir erreichten. In keiner der Hütten brannte noch Licht. Plötzlich fragte sich Grey, wie sich die Bewohner fühlen mochten, wenn sie so spät vor ihren Fenstern Hufgetrappel und Waffengeklirr hörten - eine vage Erinnerung an die englischen Truppen, die durch die Highlands gestürmt waren.
Man hatte den Wanderer in den Lime Tree gebracht, ein Gasthaus, das nach einem mächtigen Lindenbaum benannt worden war. Er war der einzige Baum dieser Größe im Umkreis von dreißig Meilen gewesen, doch jetzt zeugte nur noch ein wuchtiger Baumstumpf davon. Er war nach der Schlacht von Culloden von Cumberlands Truppen gefällt und zu Brennholz verarbeitet worden.
Grey blieb an der Tür stehen und wandte sich zu Fraser um.
»Sie denken an die Bedingungen?«
»Aye«, entgegnete Fraser kurz und ging an ihm vorbei.
Als Gegenleistung für die Befreiung von den Ketten hatte Grey drei Dinge von ihm verlangt. Erstens, auf der Fahrt zum und vom Dorf keinen Fluchtversuch zu wagen. Zweitens, wahrheitsgemäß und vollständig wiederzugeben, was der Landstreicher sagte. Und drittens Frasers Ehrenwort, daß er nichts von dem, was er erfahren würde, durchsickern ließe.
Aus dem Inneren des Gasthauses hörte man ein Murmeln. Der Wirt fuhr überrascht auf, als er
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