Ferne Ufer
als das Tablett mit dem Abendessen hereingetragen wurde.
Quarrys Bemerkung über die Schreibarbeit war kein Scherz gewesen. Allein die Nahrungsmittel erforderten endlose Bestellungen - von sämtlichen Anforderungen bitte eine Zweitschrift nach London, wenn er so freundlich wäre -, ganz zu schweigen von den zahllosen anderen Kleinigkeiten, die er für die Gefangenen, für die Wachleute und die Männer und Frauen aus dem Dorf, die tagsüber die Kasernen putzten und in den Küchen halfen, bestellen mußte. Den ganzen Tag lang hatte er nichts anderes getan, als Anforderungslisten zu schreiben und zu unterzeichnen. Wenn er nicht schleunigst einen Schreiber fand, würde er aus purer Langeweile sterben.
200 Pfund Weizenmehl, notierte er, für die Gefangenen. Sechs Fässer Bier für die Wachsoldaten. Seine elegante Handschrift wurde bald von einem knappen Gekritzel abgelöst, seine ausgefeilte Unterschrift von einem kurzen J. Grey.
Seufzend legte er die Feder beiseite, schloß die Augen und massierte den schmerzenden Punkt zwischen den Brauen. Tags zuvor waren seine Bücher eingetroffen, aber er hatte sie immer noch
nicht ausgepackt, weil er am Abend so müde war, daß er nur noch seine brennenden Augen in kaltem Wasser hatte baden und sich zu Bett legen wollen.
Als er ein verhaltenes Geräusch vernahm, fuhr er hoch und riß die Augen auf. Auf einer Schreibtischecke saß eine große, braune Ratte und hielt ein Stück Pflaumenkuchen zwischen den Vorderpfoten.
»Verdammt, das darf doch nicht wahr sein!« rief Grey erstaunt aus. »He, du freches Ding, das ist mein Abendessen!«
Ungerührt knabberte die Ratte an dem Pflaumenkuchen und hielt dabei ihre glänzenden Knopfaugen auf Grey gerichtet.
»Verschwinde!« Zornig griff Grey nach dem nächstbesten Gegenstand und schleuderte ihn der Ratte entgegen. Das Tintenglas zerbarst auf dem Steinboden. Erschrocken ergriff das Tier die Flucht und sauste zwischen den Beinen des noch erschrockeneren MacKay hindurch, der, angelockt vom Lärm, in der Tür erschienen war.
»Gibt es im Gefängnis eine Katze?« fragte Grey, während er den Inhalt seines Abendessens in den Abfalleimer neben dem Schreibtisch schüttete.
»Aye, Sir, in den Vorratsräumen hat es mehrere«, erklärte MacKay. Auf Händen und Knien rutschte er rückwärts, um die kleinen, schwarzen Fußabdrücke wegzuwischen, die die Ratte bei ihrer überstürzten Flucht durch die Tintenpfütze hinterlassen hatte.
»Bringen Sie bitte eine her, MacKay«, wies Grey ihn an. »Auf der Stelle.« Er stöhnte, als er an den widerlich nackten Schwanz auf seinem Teller dachte. Natürlich waren ihm Ratten im Feld begegnet, aber daß eine sein Abendessen vor seinen Augen verspeiste, fand er besonders empörend.
Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke.
»Gibt es in den Zellen viele Ratten?« fragte er MacKay.
»Aye, Sir, sehr viele«, antwortete der Gefangene und wischte abschließend die Türschwelle sauber. »Ich sage dem Koch, er soll Ihnen ein neues Tablett herrichten.«
»Wenn Sie so nett wären«, antwortete Grey. »Und bitte sorgen Sie dafür, MacKay, daß jede Zelle ihre eigene Katze bekommt.«
MacKay war leicht verdutzt über diese Worte. Grey sah von seinen Papieren auf.
»Ist was nicht in Ordnung, MacKay?«
»Nein, Sir«, erwiderte MacKay langsam. »Es ist nur, die kleinen braunen Biester fressen die Käfer. Entschuldigen Sie, Sir, ich glaube, den Männern wäre es nicht recht, wenn eine Katze ihre Ratten frißt.«
Grey starrte den Mann an und bekam ein flaues Gefühl im Magen.
»Essen die Gefangenen die Ratten?« fragte er verstört.
»Nur wenn sie eine erwischen, Sir«, entgegnete MacKay. »Aber vielleicht können ihnen die Katzen dabei helfen. Ist das alles für heute abend, Sir?«
9
Der Wanderer
Zwei Wochen lang hielt Grey an seinem Entschluß fest. Dann brachte ein Bote aus dem Dorf Ardsmuir Nachrichten, die alles verändern sollten.
»Lebt er noch?« fragte Grey den Mann eindringlich. Der Dorfbewohner, einer der Männer, die im Gefängnis arbeiteten, nickte.
»Ich hab’ ihn selbst gesehen. Jetzt ist er im Lime Tree und wird versorgt. Aber die Sache ist ziemlich aussichtslos, Sir, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Bedeutungsvoll runzelte er die Stirn.
»Durchaus«, antwortete Grey kurz. »Danke, Mr….?«
»Allison, Sir, Rufus Allison. Zu Ihren Diensten, Sir.« Den Hut unter dem Arm geklemmt, nahm der Mann den Schilling, den Grey ihm in die Hand drückte, verbeugte sich und ging davon.
Grey saß am
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