Ferne Ufer
tauchte auf. Es waren die vertrauenswürdigen Gefangenen, die die Zellen unter den wachsamen Blicken der Soldaten gereinigt hatten. Als letzter trat Korporal Dunstable heraus. Er brachte allerlei Kleinkram, der bei solchen Gelegenheiten für gewöhnlich gefunden wurde.
»Der übliche Plunder, Sir«, erklärte er. »Aber das hier wollen Sie sich vielleicht doch näher ansehen.«
»Das hier«, war ein schmaler, ungefähr sechs mal vier Zoll großer, grünkarierter Stoffstreifen. Dunstable warf einen kurzen Blick auf die Reihe der Gefangenen, als hoffte er, jemanden mit verräterischem Gesichtsausdruck zu entdecken.
Grey seufzte und straffte die Schultern. »Ja, das sollte ich vielleicht.« Das Gesetz, nach dem die Hochlandschotten entwaffnet worden waren und das ihnen das Tragen ihrer Nationaltracht untersagte, verbot den Besitz des kleinsten Stückchens Tartan. Als Grey vor die Männer trat, stieß Korporal Dunstable einen kurzen Befehl aus, um die Aufmerksamkeit der Gefangenen zu erlangen.
»Wem gehört das?« fragte der Korporal mit erhobener Stimme und hielt den Stoffstreifen in die Höhe. Grey ließ den Blick über die Gefangenen wandern. In Gedanken ging er die Namen durch und versuchte sie mit seinen kläglichen Kenntnissen der schottischen Tartans in Verbindung zu bringen. Zwar unterschieden sich die Muster selbst innerhalb eines Clans oft gewaltig, so daß man sich nie sicher sein konnte, aber es gab doch grundsätzliche Gemeinsamkeiten.
MacAlester, Hayes, Innes, Graham, MacMurtey, MacKenzie, MacDonald… Halt, MacKenzie! Der mußte es sein. Es war mehr seine Menschenkenntnis als sein Wissen über Tartans, die ihm Gewißheit verlieh. Die Miene des jungen MacKenzie wirkte zu beherrscht und zu unbeteiligt.
»Es gehört Ihnen, MacKenzie, nicht wahr?« fragte Grey. Rasch nahm er dem Korporal das Stück Stoff aus der Hand und hielt es dem jungen Mann unter die Nase. Das Gesicht des Gefangenen war unter den Dreckspritzern schneeweiß.
In unbarmherzigem Triumph fixierte Grey den Jungen. Wie alle Schotten, so war auch dieser voller Haß, nur hatte er nicht gelernt, sich wie die anderen mit einer Mauer aus stoischer Gleichmütigkeit zu umgeben. Grey konnte die Angst spüren, die sich allmählich des jungen Mannes bemächtigte. Noch eine Sekunde, und er würde zusammenbrechen.
»Mir gehört es«, erscholl eine ruhige, fast gelangweilte Stimme. Eine große Hand schob sich über Angus MacKenzies Schulter und nahm dem Offizier den Stoffetzen behutsam ab.
John Grey trat zurück. Die Worte trafen ihn wie ein Schlag, und MacKenzie war vergessen. Vor ihm stand Jamie Fraser.
»Das ist aber kein Fraser-Tartan«, wandte der Major ein. Er brachte die Worte kaum über seine starren Lippen, und aus seinem Gesicht war jedes Gefühl gewichen. Dafür zumindest war er dankbar - wenigstens konnte ihn seine Miene dann vor den Reihen aufmerksamer Gefangener nicht verraten.
Frasers Mund öffnete sich leicht. Grey heftete den Blick darauf, um nicht in die tiefblauen Augen sehen zu müssen.
»Nein, es ist kein Fraser-Tartan«, stimmte ihm Jamie bei. »Er gehört zu den MacKenzies. Dem Clan meiner Mutter.«
Grey fügte den Einzelheiten, die er im hintersten Winkel seiner
Gedanken in einem mit dem Namen »Jamie« versehenen Schatzkästlein hütete, ein weiteres Detail hinzu: Seine Mutter war eine MacKenzie. Er wußte, daß das stimmte, ebenso sicher, wie er wußte, daß der Tartan nicht Fraser gehörte.
Kühl und fest hörte er seine eigene Stimme: »Der Besitz eines Tartans ist verboten. Ich nehme an, Sie kennen die Strafe, oder?«
Jamie lächelte schief.
»Ja.«
Ein Raunen ging durch die Reihen, und in die Gefangenen kam Leben. Grey sah zwar nicht, wie sie sich bewegten, aber er bemerkte eine Veränderung in ihrer Aufstellung, als gingen sie auf Fraser zu, sammelten sich um ihn und schlossen ihn ein. Der Kreis wurde neu formiert, und er selbst stand als einziger draußen. Jamie Fraser war zu den Seinen zurückgekehrt.
Unter großer Willensanstrengung löste Grey den Blick von den weichen Lippen. Aus Frasers Augen sprach, wie Grey befürchtet hatte, weder Angst noch Zorn, sondern Gleichgültigkeit.
Er gab einem Wärter ein Zeichen.
»Führen Sie ihn ab.«
Major John William Grey beugte den Kopf über seinen Schreibtisch und unterschrieb Anforderungen, ohne sie gelesen zu haben. Er arbeitete nur selten nachts, aber während des Tages hatte er keinerlei Zeit dazu gehabt, und der Stapel mit Papierkram wurde immer höher.
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