Ferne Ufer
ließ nicht nach. Es saß ebenso tief in seinem Inneren wie die Winterskälte.
»Leg ihm eine Decke über; ich kümmere mich gleich um ihn.«
Die Stimme des englischen Arztes schien von weit her zu kommen. Zwischen ihr und den Händen, die sich entschlossen unter seine Arme schoben, bestand für ihn kein Zusammenhang. Als man ihn bewegte, schrie er. Die Drehung riß die kaum geschlossenen Wunden auf seinem Rücken wieder auf.
Er umklammerte die Kanten der Bank, auf der er lag, und preßte die Wange gegen das Holz, um gegen das Beben anzukämpfen.
Als sich die Tür schloß, wurde es still im Zimmer. Hatte man ihn allein gelassen?
Nein, neben seinem Kopf vernahm er Schritte. Die Decke wurde zurückgeschlagen.
»Mmh. Hat dich ganz schön zugerichtet, was, Junge?«
Er schwieg; es wurde ohnehin keine Antwort erwartet. Der Arzt wandte sich für einen Augenblick ab. Dann spürte er, wie sich eine Hand unter seine Wange schob und seinen Kopf anhob. Jemand legte ihm ein Handtuch unter das Gesicht.
»Ich werde jetzt die Wunden reinigen«, erklärte die Stimme. Sie klang unpersönlich, aber nicht unfreundlich.
Als eine Hand seinen Rücken berührte, zog er die Luft durch die Zähne ein. Er hörte ein leises Wimmern und schämte sich, als er merkte, daß es von ihm stammte.
»Wie alt bist du, Junge?«
»Neunzehn.« Es gelang ihm kaum, die Zahl zu sagen, bevor er wieder aufstöhnte.
Vorsichtig berührte der Arzt seinen Rücken mal hier, mal dort. Dann stand er auf. Er hörte, wie der Türriegel vorgeschoben wurde. Der Arzt kehrte zum Bett zurück.
»Jetzt kommt keiner mehr herein«, sagte die Stimme freundlich. »Nun kannst du weinen.«
»He!« sprach ihn jemand an. »Wach auf, Mann!«
Allmählich kam er zu sich. Unter seiner Wange spürte er rohes Holz, und für einen Augenblick vermischten sich Traum und Wirklichkeit. Er konnte sich nicht erinnern, wo er war. Eine Hand tauchte aus der Dunkelheit auf und strich ihm vorsichtig über die Wange.
»Du hast im Traum geweint«, flüsterte die leise Stimme. »Tut es sehr weh?«
»Ein wenig.« Als er versuchte, sich aufzusetzen, glitt ein stechender Schmerz über seinen Rücken. Unwillkürlich stöhnte er auf und fiel zurück auf die Bank.
Er hat Glück gehabt. Er war von Dawes ausgepeitscht worden, einem kräftigen Soldaten mittleren Alters, der kein Vergnügen daran fand, Gefangene zu schlagen, und es nur tat, weil es zu seinen Aufgaben gehörte. Dennoch - sechzig Hiebe taten weh, selbst wenn sie ohne Hingabe verabreicht wurden.
»Das ist wirklich zu heiß. Willst du ihn verbrühen?« Es war die schimpfende Stimme von Morrison. Wer anders konnte es sein?
Seltsam, dachte er benommen, wann immer sich eine Gruppe
von Menschen zusammenfindet, übernimmt jeder die Aufgabe, die zu ihm paßt, ganz gleich, welcher Arbeit er vorher nachgegangen war. Wie die meisten von ihnen, war auch Morrison früher Kätner gewesen. Konnte recht gut mit Tieren umgehen, ohne groß darüber nachzudenken. Jetzt war er derjenige, der die Männer verarztete, ob es sich um Magengrimmen handelte oder um einen gebrochenen Daumen. Morrison wußte kaum mehr als die anderen, aber die Gefangenen wandten sich an ihn, wenn sie verletzt waren, so wie sie Seumus Mac Dubh um Hilfe baten, wenn sie Trost und Rat brauchten. Oder wenn es um Gerechtigkeit ging.
Als man ihm ein dampfendes Tuch auf den Rücken legte, stöhnte er vor Schmerzen auf und preßte die Lippen zusammen. Er spürte Morrisons Hand, die sanft auf seinem Rücken ruhte.
»Warte einen Augenblick, Mann, bis die Hitze nachläßt.«
Als die Qual verebbte, wurde er sich blinzelnd der Stimmen und der Menschen in seiner Nähe bewußt. Er lag in der großen Zelle, in der Nische neben dem Kaminvorsprung. Auf dem Feuer siedete ein großer Kessel. Er sah, wie Walter MacLeod saubere Stoffetzen in den Kessel tauchte. Schließlich schloß Fraser wieder die Augen und ließ sich von der verhaltenen Unterhaltung der Männer in eine Art Dämmerzustand lullen.
Diese verträumte Losgelöstheit war ihm durchaus vertraut. Er hatte dieses Gefühl, seit er seine Hand über Angus’ Schulter gestreckt und sie um das Stück Stoff geschlossen hatte. Als hätte sich durch diese Entscheidung ein Vorhang zwischen ihn und seine Männer gesenkt, als befände er sich allein und in unendlicher Ferne.
Er war dem Wärter gefolgt, der ihn gepackt hatte, hatte sich entkleidet, wie ihm befohlen wurde, ohne dabei etwas zu spüren. Dann hatte er seinen Platz auf dem
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