Ferne Verwandte
Crème der New Yorker Jugend befindet sich im Waldorf Astoria, um Sally Haynes’ Einführung in die Gesellschaft zu feiern. Obwohl Sally die Tochter von John Arthur Haynes ist - einem republikanischen Senator und großen Hasser der Italo-Amerikaner - und praktisch verlobt mit Riddley Wensworth, einem waschechten Yankee, hat sie eine Schwäche für Charles. Das bekräftigt sie durch ein überdeutliches Briefchen, das ihm nach Beginn des Festes von einer jungen Dame zugesteckt wird: Wider alle Erwartungen will Sally ausgerechnet mit ihm den Tanz eröffnen. Charles’ Herz pocht, ja, es schlägt ihm bis zum Hals. Um seine Aufregung zu bezwingen, leert der Junge zum ersten Mal in seinem Leben ein Glas Champagner, und der schmeckt ihm nicht nur, weil es sich um einen Cristal handelt, sondern weil er sich fühlt, wie er sich noch nie gefühlt hat. Als Sally dann ihren triumphalen Einzug hält und Wensworth mit einem Schlenker ausweicht, um sich auf Charles, den schüchternen,
verlegenen Charles, zu stürzen, ist dieser durchaus bereit, sie in den Arm zu nehmen und mit der vermeintlichen Geschicklichkeit eines geübten Tänzers herumzuwirbeln, obwohl er nie zuvor auf einem Ball gewesen war. Mittendrin jedoch bremst er unvermittelt ab, löst sich von seiner Partnerin und neigt wie zu einer drolligen Verbeugung den Oberkörper vor - diesen Eindruck hat zumindest die Gästeschar. Auch das Orchester spielt langsamer, um den originellen Einfall des jungen Mannes ins rechte Licht zu rücken, doch der rücksichtsvoll harmonische Rahmen lässt den ungeheuren Rülpser, der aus seinen Eingeweiden hervorquillt, nur noch ungeheurer erscheinen. Charles wankt ein bisschen, und als er schwer zu Boden sinkt, bleibt nichts, als ihn abzuschleppen. Es könnte sich lediglich um ein vorübergehendes, durch die Aufregung ausgelöstes Unwohlsein handeln, doch hier haben sich zum ersten Mal die Symptome seiner Krankheit gezeigt: erblich bedingter lethargisierender Alkoholismus, lautet die Diagnose der Ärzte.
»Seither ist er in den besten Kliniken gewesen, aber ohne Erfolg. Ein Schluck genügt - und wann immer er kann, trinkt er mehr als nur einen Schluck -, und schon besteht die Gefahr, dass er ins Koma fällt. Ein paarmal haben wir ihn schon an den Haaren hochgezogen, damit er nicht im eigenen Erbrochenen erstickt«, endete Jenny mit einem Seufzer. »Und trotzdem sind wir noch zusammen«, schiebt sie mit einem befreienden Lachen hinterher.
Die menschliche Natur ist wirklich seltsam. Ich hatte der Geschichte von Charles gelauscht - es handelte sich nicht nur um meinen Vetter, sondern auch um meinen Wohltäter -, ohne dass er mir leidgetan hätte. Es fällt mir schwer, es mit einer Art grimmigen Genugtuung zuzugeben, aber sein Unglück war mein Glück. Bald würde ich seinen Platz im Herzen von Onkel Richard erobert haben, genauso wie mein Vater, der William verdrängt hatte. In diesem Moment fiel mir, ich weiß auch nicht, warum, der Schweizer ein. Ich überlegte, was für ein Gesicht er machen würde, wenn er erführe, dass ich es geschafft hatte, einer wie ich, wenn doch nicht einmal er selbst es trotz seines gewaltigen Größenwahns zu schaffen
geglaubt hatte, und ich fühlte mich als Herr des Universums. Alles, was ich wollte, würde ich mir nehmen … Und jetzt wollte ich Jennifer. Natürlich war ich betrunken, sie aber auch. Vielleicht wich sie deshalb nicht zurück, als ich ihr mit den Fingerspitzen über den Hals strich. Sie drehte sich mir zu und hatte jenen Blick, den die Frauen in gewissen Momenten haben. Ein Blick, der an das Dunkel der Nacht und die Tiefe des Ozeans erinnert, an alles, was verschlingt und endgültig ist. Ein solcher Blick hatte meinen Vater das Leben gekostet - Nonnilde hatte alles versucht, mir das einzubläuen, aber in diesem Augenblick war ich bereit, es über Bord zu werfen. Dann trank Jennifer den letzten Schluck. Ausdruckslos blickte sie auf Charles und sagte dann: »Heute sind es zwei Jahre, dass wir zusammen sind … Eigentlich wollte ich das feiern.« ›Mach dir keine Gedanken, ich werde für ein ganz anderes Fest sorgen‹, grinste ich in mich hinein, und wir zogen ihn über den Flur zu ihrem Zimmer. Durch das offene Fenster drang das Tosen der Wellen herauf, und der Mond tauchte Charles’ Gesicht und Hände auf dem Bett in aschfahles Licht. Schweigend blickten wir uns an. Der Satin ihres Kleides glänzte prächtig. Ich ließ die Spaghettiträger über ihre Arme gleiten, und das Kleid rutschte zu
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