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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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ging seinen gewohnten Gang, unterbrochen nur von der Rückkehr der Turist und nunmehr auch der auswärts Studierenden.
    Der auswärts Studierende, ein Produkt der Schulreform und insbesondere des »staatlichen Zuschusses für Studenten mit einkommensschwachen Eltern« - eine Zulage, die Bedürftige nach einer bestimmten Anzahl von Prüfungen erhielten -, war, genau besehen, die x-te Manifestation jenes Auswanderungszwangs, der die Dörfer des Südens seit Beginn des Jahrhunderts entvölkert hatte. Dank des phantastischen Ausbaus der italienischen Autobahnen - der schnellsten in ganz Europa - belebten sie sich wieder, weil die
Emigranten nicht nur im Sommer auftauchten wie früher, sondern auch zu Weihnachten und Ostern. Die auswärts Studierenden dagegen kamen alle zwei, drei Wochen, je nachdem, wie lange sie benötigten, um die Lebensmittelvorräte aufzubrauchen, welche die Mütter unter den widerstrebenden Blicken der Söhne liebevoll in riesige Pappschachteln packten - »Das reicht, Ma’ … Wer soll denn das ganze Zeugs essen? … Da schau her, jetzt packt sie auch noch die Wurst dazu! … O nein, den Schafskäse bitte nicht, nein, der stinkt, der Schafskäse.« Dieser Proviant stellte wegen seiner Naturreinheit den größten, wenn nicht gar den einzigen Appeal der auswärts Studierenden für ihre Kollegen aus der Stadt dar - auch wenn das Wort »Kollegen« aus dem Vokabular des typischen auswärts Studierenden strikt verbannt war. Der protzte nämlich schon bei seiner ersten Rückkehr nach Hause mit der Sprechweise des gewählten Studienortes, trug die exzentrischste Garderobe, welche die Händler dort feilboten, und schaute als Universitätsstudent inmitten eines Meeres von Analphabeten auf seine Mitdörfler herab. Schon aus diesem Grund verdiente er die Ehrerbietung, die den Notablen gezollt wurde, hauptsächlich aber verdiente er sie, weil er Träger einer Weltanschauung war, was für den ungehobelten Pöbel in den Bars etwas absolut Unerhörtes war. Zu den ersten Repräsentanten dieser neuen, seltsamen Phalanx im alten Heer der Emigranten - auch »intellektuelle Emigranten« genannt, um sie von der Masse zu unterscheiden, die den harten Kern dieses Heeres ausmachten - gehörten meine Freunde Tarcisio und Apache.
    Als ich sie am Allerheiligentag wiedersah, affektierten sie schon mit ihrem römischen Akzent herum - auch wenn dieser weniger elegant klang als der von Giuditta und ihren Freunden. Da sie nun einmal in die revolutionäre Atmosphäre der Hauptstadt geraten waren, hatte ihnen ihr politisches Credo sofort den Anschluss an jene Kreise ermöglicht, die im Augenblick en vogue waren. Apache war, was sich ja anbot, Großstadtindianer geworden, während Tarcisio - der einen anstrengenden Abstecher aufs Land auf sich genommen hatte, um sicherzustellen, dass niemand ihm hinterherspionierte
- uns anvertraute, dass er sich den Ronde Combattenti Ultracomuniste angeschlossen habe, ja, sogar einer ihrer Führer sei, und dass die Revolution bald das ganze Land aus den Angeln heben werde.
    »Unser Dorf auch?«, fragte ich zaghaft.
    »Natürlich unser Dorf auch, aber mit Sicherheit handelt es sich nur um ein sekundäres Ziel«, grinste er.
    Von seinem selbstsicheren Ton ermuntert, malte ich mir die Szene aus: zahllose Aufständische, die mit wehenden roten Fahnen in einer Lastwagenkolonne die Staatsstraße herauffahren und auf Befehl des Sohns des einfachen Schneiders außer den verschiedenen Vertretern der Obrigkeit auch noch - in ihrer Eigenschaft als Kapitalistenschwein - meine Großmutter festnehmen und mich so mit einem Schlag von ihr und Alba Chiara befreien. Keine Gewalt, versteht sich, aber wenn Tarcisio nur ein einziges Mal von der proletarischen Strategie abweichen und auch hier unten eine Stippvisite machen wollte, würde ich ihm ewig dankbar sein. Nachdem er gründlich über meinen Wunsch nachgedacht hatte, stimmte er - und das gereicht ihm zur Ehre - im Namen unserer alten Freundschaft zu. Leider sah ich ihn etwas später im Fernsehen, wild entschlossen, sich seine fünfzehn Sekunden Berühmtheit zu nehmen - nicht fünfzehn Minuten, wie man Warhol meist falsch zitiert. Er war verhaftet worden, mit der üblichen P38 im Gepäck, was ihm fünf Jahre im Käfig einbrachte, um es im Jargon der auswärts Studierenden auszudrücken, und zwar in einer Konditorei, wo er sich im Zuge einer jener legendären proletarischen Enteignungsmaßnahmen aufgehalten hatte. Mit sahneverschmiertem Mund, einem blauen Auge und

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