Ferne Verwandte
mir aufgestiegen, und sosehr ich mich auch beherrscht hatte - es war mir nicht gelungen, Ruhe zu bewahren. Schließlich war es mein Schicksal, über das er entschieden hatte.
»Das stimmt«, räumte er ein. »Und du kannst natürlich nicht wissen, wie viele Male ich ihm gesagt habe, dass er zurückkehren und euch hierherholen soll …« Er senkte den Blick ins Glas und fügte nachdenklich und mit leiser Stimme hinzu: »Er hatte eine andere …«
Ich beschrieb ihm die Blondine auf den Fotos, über welche die Mamma ihr rührendes Fragezeichen gesetzt hatte.
Er nickte. »Dann aber kam deine Mutter aus Italien, und dein Vater ist mit ihr zusammen abgereist … Den Rest kennst du ja.«
»Nein, nein, ich weiß überhaupt nichts … Ich weiß nicht, warum er fort ist. Wollte er mich mitnehmen, oder wollte er uns dort wieder sitzen lassen?«, fragte ich mit dem ganzen Groll, den ich in meinem Inneren hegte.
Er sah mich unsicher an - nie hätte ich ihn eines solchen Gesichtsausdrucks für fähig gehalten. »Er ist nach Italien zurückgekehrt, um euch zu holen«, antwortete er.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. In diesen wenigen Wochen hatte ich gelernt zu ergründen, was sich hinter seinen Worten verbarg, und flüsterte: »Das ist nicht wahr«, während sich meine Tränen mit der Sauce des Desserts, das vor mir stand, vermischten.
»Du hast recht«, gab er zu, und ich sah diesen Mann, diesen Felsblock von einem Mann, schluchzen wie ein Kind.
Als wir das Caravel erschöpft verließen, legte er mir einen Arm um die Schulter und murmelte: »Ich hatte es dir ja gesagt: Die Vergangenheit ist ein Räuber, der einen überfällt«, auch wenn er, sobald er im Wagen saß, knurrte: »Erinnere mich morgen daran, dass wir es kaufen müssen, dieses Restaurant, und auch den Betrieb, der den Wein produziert … Wie hieß er gleich noch mal?« Er war wieder ganz der Alte.
28
An jenem Morgen wachte ich spät auf. Niedergedrückt von der Wahrheit über meinen Vater, über seinen Zynismus - mich, seinen kleinen unschuldigen Sohn im Stich zu lassen -, aber auch von dem Wein und den Speisen, hatte ich eine schlaflose Nacht verbracht und obendrein vergessen, den Wecker zu stellen. Als ich im Büro ankam, musterte Shirley mich mit besorgter Miene: Onkel Richard hatte schon dreimal nach mir gefragt. Ich dagegen machte mir keine Sorgen. Es waren nicht viele Stunden vergangen, seit ich ihn hatte weinen sehen, und er hatte meinetwegen geweint, wegen des Bösen, das er mir angetan hatte, was konnte ich da noch von ihm befürchten? Doch sobald ich sein Büro betreten hatte, war meine ganze Überheblichkeit im Nu dahin.
»Na, hast du den Bericht fertig?«, schnauzte er mich an, und zwar mit seinem üblichen New Yorker Akzent.
Mein Verstand war ein leeres Gefäß, als ich mich krampfhaft zu erinnern versuchte, welchen Bericht er meinte.
»Den über das Caravel und den Weinhersteller«, bellte er.
»Aber, Onkel«, antwortete ich demütig, aber auf Italienisch, »du hast mir das beim Abendessen gesagt …«
»Amerikaner, wir sind Amerikaner und sprechen die amerikanische Sprache, vergiss das nicht … Sofort an die Arbeit, und ach, damit das klar ist: Ich dulde keine Verspätungen, von niemandem«, fügte er hinzu und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Und all die schönen Worte, die Rührung und die Umarmungen? Am Abend zuvor hatte ich nach all seinen Enthüllungen zum
zweiten Mal und endgültig meinen Vater verloren, mich aber in der Illusion gewiegt, gleichzeitig einen anderen gefunden zu haben, einen älteren und weiseren, der mich vor allem liebte. Stattdessen war Onkel Richard nichts als mein Arbeitgeber, mit dem ich mich gut stellen musste, deshalb erwiderte ich beflissen: »Entschuldige, Onkel, aber heute Nacht konnte ich kein Auge zutun … Dieser Wein ist mir nicht gut bekommen.«
»Aha, dann glaubst du also, dass man die Firma nicht kaufen sollte?«
»Nein, das wollte ich damit nicht sagen … Nur dass wir vielleicht zu viel davon getrunken haben«, sagte ich augenzwinkernd.
»Schon gut, schon gut, aber mach eine Notiz: Das ist ein Punkt, der zu checken ist. Wir gehen noch mal zum Abendessen ins Caravel, dann werden wir schon sehen.«
»Onkel, könnten wir es nicht beim Mittagessen überprüfen? Ich bin so kaputt und möchte heute früh ins Bett gehen«, sagte ich wie ein geprügelter Hund.
»Zum Mittagessen haben wir ein Treffen mit den Japanern von der Yamakoshi. Lass dir von Lucille die Mappe geben … Sie stellen
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