Ferne Verwandte
Arbeit, und es ist eine Woche her, dass ich verschwunden bin … Ja, morgen muss ich zurück.« Ich versuchte, sie zu umarmen, sie zu überzeugen, obwohl ihr Argwohn ja teilweise berechtigt war, und je mehr sie mich zurückstieß, desto glücklicher war ich, bis sie sich von meinen Küssen erweichen ließ und wir uns auf das Sofa warfen. Danach fragte sie mich aus heiterem Himmel, welchen Beruf ich ausübte.
Nie hatte sie irgendeine Neugierde für diesen speziellen Aspekt meines Lebens an den Tag gelegt. Was das Übrige anbelangt, hatte ich ihr alles erzählen müssen, und sie hatte stundenlang zugehört. Es muss ihr, die die schönsten Villenviertel der Welt bewohnte, wie eine ungemein poetische Existenz vorgekommen sein. Als ich ihr nun gesagt hatte, dass ich Firmen kaufte und verkaufte, verriet ich ihr, um ihre Enttäuschung zu mildern, dass ich, wie in allen Zeitungen zu lesen gewesen war, in meinem jugendlichen Alter schon eines der ganz großen Tiere der amerikanischen Finanzwelt war. Trotzdem schaute sie an die Decke, seufzte und sagte: »Ich weiß nicht, aber von dir hätte ich etwas anderes erwartet.«
»Eigentlich wollte ich Schriftsteller werden«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, um mich zu rechtfertigen - es war schließlich die Wahrheit.
»Ich hätte gedacht Musiker, so, wie du in der Kirche gespielt hast … Aber umso besser, einen Musiker hatte ich ja schon, und der hat mir gereicht. Aber du kannst was, ich erinnere mich noch an diese Melodie, Air , nicht wahr? … Gib zu, beim Spielen hast du an Jennifer gedacht: Sie ist so leicht wie Luft, dieses Flittchen.«
»Nein, ich bitte dich, hör auf. Ich schwöre dir, es ist nichts zwischen uns, du musst mir glauben.«
Sie nickte, auch wenn sie nicht hundertprozentig überzeugt zu sein schien. »Und was hast du denn so geschrieben?«, fragte sie.
»Ein paar Gedichte.«
»Ich will sie lesen.«
»Sie sind in Italienisch … Aber ich habe einen Roman im Hinterkopf.«
»Und wovon wird der handeln?«
»Von dir natürlich.«
Sie lachte, und ich spürte, wie ihre Lippen mich küssten. Ich zündete mir eine von ihren Zigaretten an und sagte dann mit der Miene eines bedeutenden Mannes: »Ich muss mich bloß von diesem Scheißjob befreien, dann wirst du schon sehen.« Ich sah sie schief an, um festzustellen, welche Wirkung meine Worte hatten, und bemerkte ihren dritten Makel: Ihre Lippen … tja, die waren zu schmal.
Am Tag danach begab ich mich, meine kleine Kündigungsrede schon im Kopf, zur Arbeit, aber sobald ich das Büro meines Onkels betreten hatte, war er es, der erklärte, dass er mit mir reden müsse.
»Ich habe in diesen Tagen nachgedacht, Carlino. Ich habe dich zu sehr ausgebeutet. Von heute an wirst du ein anderes Leben führen, versprochen. Du wirst freier sein, das zu tun, was ein junger Mann tun muss.«
Würde ich es je schaffen, ihm zu sagen, dass ich ihn verlassen wollte? Sobald es möglich war - viel später also, um die Wahrheit zu sagen -, versuchte ich, Cybill anzurufen, um sie über die neuesten Entwicklungen zu informieren. ›Sie ist wohl ausgegangen‹, dachte ich. Aber sie war auch nicht da, als ich nach einem Tag, der ebenso schrecklich und höllisch war wie alle anderen, endlich die Haustür aufschloss.
30
Ich wartete die ganze Nacht auf sie. Immer wieder fuhr ich in die Höhe, als hätte ich die Klingel gehört - aber es war nicht Cybill, sondern nur das geheimnisvolle Gezirpe der New Yorker Nächte. Erst am Morgen war mir endgültig klar, dass sie fort war - dass ich mir nur eingebildet hatte, Anspruch auf diesen Engel zu haben, mich an seinem Körper und seinem jungen Herzen erfreuen zu können, während ich mich ihm gegenüber nur gleichgültig gezeigt und mich aufgeplustert hatte. Wie betäubt zog ich mich an und lief durch die Straßen zu meinem Büro. Dort wohnte ich, noch immer vollkommen benommen, den üblichen nicht enden wollenden Telefonaten von Onkel Richard bei und stellte mich darauf ein, den x-ten Abend mit ihm zu verbringen. Aber zumindest in dieser Hinsicht hielt er Wort: Er gab mir frei, wie er es versprochen hatte - womit ich frei war, mich in meinem Schmerz zu verzehren.
In einem Anfall von Panik rief ich am nächsten Tag bei einem Dutzend Polizeireviere an: Zum Glück war keine Leiche gefunden worden, auf die Cybills Beschreibung gepasst hätte - ich hatte gar nicht ins Kalkül gezogen, dass es, wenn ihr etwas zugestoßen wäre, in allen Zeitungen gestanden hätte, und die Zeitungen
Weitere Kostenlose Bücher