Ferne Verwandte
anderer Schriftsteller vergleicht, jener Schriftsteller, die das Publikum liebt
und für die der aufstrebende große Künstler - als solcher fühlt er sich im Grunde doch bereits - nur Verachtung übrig hat? Ich glaube nicht, und in jenem Augenblick glaubte ich es erst recht nicht. Meine ganze Aggressivität verpuffte schlagartig, und am Ende, als er mit seiner Lektüre fortfuhr, ließ ich ihn dann auch seinen verflixten Cristal entkorken. Ja, ich war es selbst, der in die Küche lief und zwei Sektflöten holte, aber während ich beim Einschenken unverwandt auf seine Mimik achtete, empfahl ich ihm immerhin: »Aber höchstens ein Gläschen.«
»Jaja, sei ganz beruhigt … Wunderschön, dieser Absatz.«
Klar war der toll! Vorgelesen zudem mit dieser unwiderstehlichen Melodik, die nur Amerikaner den Worten verleihen können, kam er mir selbst nachgerade großartig vor. Von Ruhm umstrahlt, schenkte ich ihm sein Glas bis zum Rand voll und wollte gerade mein eigenes austrinken, als das Telefon schrillte. ›Das wird diese Nervensäge von Onkel Richard sein‹, dachte ich, weil ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte. Doch Charles spitzte die Lippen, schickte einen Kuss in die Luft und verkündete dann: »Deine Ginevra.«
Ich stürzte ins Schlafzimmer, um das Gespräch entgegenzunehmen, und es war tatsächlich meine Ginevra - Cybill, will ich sagen. So wie sie klang, schien sie unter der Einwirkung irgendeines Zaubertrankes zu stehen, und infolge der Aufregung - verstärkt durch den Whiskey, den ich intus hatte - ging es mir genauso. Auch das Gezwitscher eines ganzen Waldes im Hintergrund war zauberhaft - oder handelte es sich um den Klang des Kosmos, den sie mit Hilfe ihres Bragon einfing? »De-e-e-nk an mich«, hauchte sie, und ihre Stimme katapultierte mich sofort in eine Höhe, wie keine Musik, kein Gedicht und kein Roman es je vermocht hätten.
»Ich tue nichts anderes«, antwortete ich von dieser Höhe herab. »Wo bist du?«
»In Phoenix.« Genau der richtige Name für eine verzauberte Stadt - mit hohen, in der Wüste flirrenden Stahltürmen. »Mit Stewart. Er spielt gerade, hörst du ihn?« Anstelle des Vogelwaldes
hörte ich jetzt den Applaus von ein paar tausend Leuten, dann die Gitarren, und schließlich hob er zu singen an. Ja, jetzt hörte ich ihn, und ich spürte auch, wie sich mir ein Messer in die Brust bohrte. »Stell mir keine Fragen, bitte … Ich weiß selbst nicht, warum ich zu ihm zurück bin« - ja, zweifellos, sie war einem Zauber erlegen. Tatsächlich fügte sie hinzu: »Sein Schwanz ist so lang und so hart wie eine Flasche, aber du bist es, an den ich denke, wenn er mich fickt. Nicht er ist es, sondern du, du...«
In diesem Moment hatte mir das Messer die Brust aufgeschlitzt - es war das erste Mal, dass mir klar wurde, von welcher Bedeutung Stewarts Körpermaße waren. Andererseits war ich es, der ihr im Kopf herumging. Deshalb fragte ich hoffnungsvoll: »Wann kommst du zurück, mein Liebling?«
»Mhm.«
»Du hast gesagt, dass du an mich denkst …«
»Es gibt zwei Kräfte. Ich kann mich nicht entscheiden.«
Ich hätte wütend werden sollen, aber ich liebte Cybill zu sehr, mehr als ich je irgendjemanden in meinem Leben geliebt hatte. Ich liebte sie so sehr, dass alles, was sie getan hätte, in Ordnung gewesen wäre. Ich seufzte: »Na gut … Ich warte auf dich.«
»Wenn ich heute Nacht mit ihm zusammen bin, werde ich deine sizilianische Witwe sein … Ciao, ich liebe dich«, und diese letzten Worte flüsterte sie auf Italienisch.
Eine Minute lang war ich sprachlos und hielt den Hörer in der Hand. Zwei Minuten - nicht mehr - hatte das Telefongespräch gedauert. Tatsache ist, dass ich, als ich ins Wohnzimmer zurückging, Charles bereits als Leiche auf dem Sofa vorfand. Er hatte die ganze Flasche ausgesüffelt, dieser Blödmann. Und was jetzt? Was, verdammt noch mal, sollte ich jetzt machen? Ich wählte seine Privatnummer.
Nachdem ich Jennifer erklärt hatte, was passiert war, sagte sie nur: »Bring ihn mir zurück.« Ich rief ein Taxi und brachte ihr den Ehemann zurück. Wäre ich flüssig gewesen, hätte ich den Taxifahrer überredet, ihn hinaufzuschaffen, aber als ich Charles’ Jacke
durchwühlte, kam gerade einmal so viel zusammen, dass ich die Fahrt bezahlen konnte. Was mich anbelangte, so beherzigte ich leider eine von Onkel Richards Lieblingsmaximen, die da lautete: »Nur Bettler laufen mit Bargeld herum.« Nie wieder würde ich ohne mindestens tausend Dollar in der Tasche aus
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