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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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sanft.
    Draußen auf dem Land arbeitete die Nachtigall noch immer mit ihrer Hacke, und Fausto saß vor dem Schnee des Bildschirms. Der Film vom Vormittag war seit ein paar Stunden zu Ende, doch für ihn machte das keinen großen Unterschied. Pit schaltete das Gerät aus und schüttelte traurig den Kopf. Dann ging er in das Zimmer seiner Mutter, zog aus dem hohen Panettone-Haufen mit einiger Mühe einen schlangenförmigen Behälter hervor und forderte mich auf mitzukommen. Ich trabte auf der primitiven Treppe, die zu seinem Dachzimmer führte, hinter ihm her. Er nahm ein Buch aus seinem Koffer und blätterte die ersten Seiten durch. » Dis is e rum, dis is e tebl, dis is e buk : Das ist Englisch«, sagte er. »Das musst du lernen, wenn du nicht in dem Scheißkaff sterben möchtest, in dem du zur Welt gekommen bist. Hier, lies mal laut vor!«
    Mit lauter Stimme lese ich: » Tis is a room, tis is a table, tis is a book «, während er den schlangenförmigen Behälter öffnet. Aus dem Augenwinkel sehe ich zwischen seinen Händen einen Gegenstand, ganz aus Gold, auftauchen. Das wird wohl eine andere Art Panettone sein, ein größerer, ganz spezieller Panettone, denke ich, vernehme aber plötzlich einen rauen, melodiösen Ton. Ich höre auf zu lesen, drehe mich um und starre ihn an.
    »Was ist? Hast du noch nie ein Saxofon gesehen?«, fragt er und spielt weiter.

5
    Und so verbrachten wir auch die nächsten Tage: Wir badeten im Fluss, besuchten besonders begabte Frauen in weit über das Land verstreuten Bauernhöfen und spielten danach in der Bar Tressette . Bis auf einen Morgen. »Keine Karten heute«, sagte Pit und parkte den Wagen vor einem verlassenen Haus am Fuße eines hohen Bergs, der ganz kahl war, auf dessen Gipfel aber ein schöner grüner Schopf saß. Kaum waren wir oben, vergaß ich sogar meine Schwindelgefühle. Ich sah zu, wie er durch die hohen Büsche streifte und über ihre Blätter strich, wie es in meiner Phantasie Friedrich II. mit seinen geliebten Schlachtrössern getan hatte. Dann schnitt er mit einem Klappmesser behutsam ein paar ab, legte sie auf die Handfläche, schnupperte an ihnen und setzte sich auf einen Felsbrocken. Dort klebte er drei Zigarettenpapierchen zusammen, bröselte die Blätter hinein und drehte mit einer geschickten Handbewegung eine torpedoförmige Zigarre. Die zündete er an und tat mit vorgerecktem Kinn einen tiefen Zug. Dann nahm er noch einen Zug. »Ausgezeichnet«, sagte er und reichte mir den Torpedo.
    Ich sah ihn unsicher an. »Das darfst du rauchen, es schadet nicht.« Ich glaubte ihm. Warum auch nicht? Ich tat einen Zug und schloss ebenfalls die Augen. Ich nahm einen zweiten, und als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich es - fern, azurblau, und überall glänzten Segel im Sonnenlicht. Ich habe immer gewusst, dass man es, obwohl es weit weg ist, manchmal sehen kann, aber mir war das noch nie gelungen. Deshalb rief ich: »Das Meeeeer !«

    »Jaja, das Meer«, murmelte er, und als ich ihm die Buschblätterzigarre zurückgab, schämte ich mich ein wenig, weil ich so laut geschrien hatte. Das leuchtende Bild verschwand auch schon wieder, und wir streckten uns unter den stillstehenden Wolken aus.
    Als ich aufwachte, war er dabei, im Affenzahn Pflanzen abzuschneiden. »Ich hab schon geglaubt, du wärst tot«, sagte er und wischte sich mit dem Arm den Schweiß vom Gesicht. »Die anderen lassen wir stehen. Soll die Natur ihren Lauf nehmen«, fügte er kichernd hinzu. Er band seine Ernte zu zwei dicken Bündeln zusammen, und als wir wieder zu Hause waren, hängte er sie auf der kleinen Terrasse in einer besonderen Reihenfolge zum Trocknen auf und sagte: »Das bleibt bitte ein Geheimnis zwischen uns beiden. Vergiss das nicht!«
    Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, um was für eine Art von Geheimnis es sich handelt, bin aber mächtig stolz auf das mir entgegengebrachte Vertrauen. Und glücklich bin ich, obgleich es genügend traurige Momente gibt. So geht er zum Beispiel abends immer allein aus: Er besucht seine Frauen - auch in der Nacht hat er eine ganze Schar zu befriedigen, und das kränkt mich jedes Mal. Ein Glück, dass er stets zurückkommt. Dann bleiben wir im Freien, draußen in der Kühle der Nacht.
    Er nimmt einige harzhaltige Blätter, und während wir sie unter dem Sternenhimmel rauchen, erzählt er mir von Mailand: von den Dingen, die er gemacht, und von den Leuten, die er kennengelernt hat, und während ich ihm zuhöre, träume ich davon, erwachsen zu sein und

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