Ferne Verwandte
Halbschatten strickte. »Dschitàn«, befahl Pit. Die Lemure senkte den Kopf, um über die dicken Brillengläser und das Gestell von der Farbe und Konsistenz eines abgelutschten Karamellbonbons hinwegsehen zu können.
»Wie bitte?«, fragte sie mit leicht gereiztem Unterton.
»Dschi-tàn«, skandierte er erbarmungslos.
»Piètr, du kommst aus Milàn, aber wer raucht denn hier schon so’n Zeug?«, kam es von ihr zurück.
»Na dann also King«, sagte er auf gut Glück.
»Ich schau mal, ob noch was da ist«, antwortete das alte Weib resigniert und stöhnte beim Aufstehen, als würde man ihr die Fingernägel ausreißen. »Der Ischias!«, erklärte sie, bevor sie hinter einem Vorhang verschwand und Pit sich geschickt über den Tresen beugte und aus der Kasse eine Handvoll Banknoten »entfernte«, um sich dann in aller Gemütsruhe Kugelschreiber, Rasierklingen, Feuerzeuge, Tschipgum - wie man in unserer Gegend für Kaugummi sagt - oder sonstiges, was in seiner Reichweite lag, in die Tasche zu stecken. Im Übrigen kaufte er fast nie etwas, er entfernte es einfach - so nannte er das.
Draußen soff ein Hund aus dem Brunnen, die Vorderpfoten auf den Rand gestellt. Sein Herrchen kratzte sich am Ohr. Drei Schwalben flitzten im Tiefflug über die kleinen Gärten, und wir glitten den Hang hinunter bis zu einer Grube mit einer Pyramide aus Rohren daneben. »Schau mal, ob jemand kommt«, sagte er, und nachdem er alles eingeladen hatte, was auf den Rücksitz passte, zündete er sich eine Zigarette an - eine von denen, die er sich bei der Tabakfrau besorgt hatte -, und während er die Handbremse losließ, betrachtete ich ihn, und er war mein Held, Pit, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, was er mit diesen ganzen Rohren je würde anfangen können.
Am dritten Nachmittag, nachdem sich jeder von uns, wie es Brauch ist, irgendwo für die Siesta ausgestreckt hatte - die wir hier penneca nennen -, hatte ich, bevor ich unter unserer Lieblingseiche
eindöste, die unbeweglichen Blätter vor der großen blauen Linse des Himmels betrachtet, und als ich die Augen wieder aufschlug, fand ich ihn nicht mehr an meiner Seite. Zwar sah ich den grauen Lieferwagen talwärts fahren, maß dem aber im Augenblick keine große Bedeutung bei. Ich ging pinkeln, und als ich mich daranmachte, ihn zu suchen, kam Genuario aus dem Stall. Wer war denn dann im Lieferwagen? Trotz meiner Angst wollte ich den Folterer schon fragen, aber bis er mir antworten würde, hätte ich kostbare Minuten verloren.
Ich renne also ins Haus. Fausto starrt auf den ausgeschalteten Fernseher. Vitina rupft ein Hühnchen und plappert, wie üblich.
»Wo ist Pit?«, frage ich sie.
»Weeer?«
Menschenskinder, ist die vielleicht schwer von Begriff! »Dein Sohn aus Milàn!«, brülle ich.
»Ach so, Piètr«, antwortet sie erleichtert. »Woher soll ich’n das wissen? Der iss jung, und ab und zu verschwindet er halt mal, und dann kommt er wieder zurück.«
»Schon gut. Aber wann ?«
»Vielleicht heut Abend, vielleicht in’ner Woche. Euer Wohlgeboren können so’ne Sachen nicht verstehen, aber was mein Sohn angeht, so sind’s die Weiber, die hinter ihm her sind. Der iss so schön, und Haare hat der wie der Erzengel Gabriel. Da weiß nur der Herrgott, wo er hingeht, auch wenn ich nachts davon träum, wie er im weißen Gewand Wunder wirkt, und mein Herz iss froh, weil ich die Hoffnung nicht aufgegeben hab, dass die Wege des Herrn unendlich sind, und …« Sie merkt nicht einmal, dass ich inzwischen in den Hof hinausgegangen bin. Dass ich verzweifelt bin.
Ich schloss mich in Pits Auto ein. Während ich die Staatsstraße fest im Blick behielt in der Erwartung, dass er zurückkäme, hörte ich mir seine Platten an, bis die Sonne zwischen den Bergen rot wurde, die Gitarren langsamer und schleppender spielten und die Nachtigall mich zu Tisch rief. Wir aßen vor dem laufenden Fernseher, und mir kam jetzt alles so anders vor - moderner. Danach hielt
ich wieder Ausschau. Aus dem Haus drangen immer seltener Geräusche, und auch die Lichter gingen aus. Die Berge wirkten wie ein Scherenschnitt, so klar und schwarz zeichneten sie sich vom blauen Himmel ab. Hin und wieder zog eine Sternschnuppe einen Leuchtschweif hinter sich her, und ich wartete stundenlang, dass ich ihn zurückkommen und meinen einzigen Wunsch erfüllt sehen würde. Aber Pit kehrte nicht zurück, und als ich mich dieses Mal schlafen legte, war ich so traurig, dass ich wirklich weinte. Dann hörte ich im Schlaf einen
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