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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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allegorischen, von glitschigem Moos bedeckten Figuren geschmückt ist - in der Regel Erdgottheiten, aber auch Sirenen und Tritonen, selbst wenn der Ort, wie in unserem Fall, auf dem stolzen Gipfel eines Berges thront; dann ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs mit Bänken drumherum, die besetzt sind von den Überlebenden dieses beispiellosen Gemetzels, steif gewordenen Veteranen, die ihre Augen auf die immer schwerer zu entziffernden Namen ihrer unglücklicheren Kameraden richten: Das bei der Gemeindeverwaltung eingereichte Gesuch um Neuvergoldung der Buchstaben hat nichts gefruchtet. Nicht verblasst dagegen sind die Erinnerungen an die Schlachten, an den grausamen Tod von Männern, die nur noch zuckende Kleiderbündel waren, an die Akte von Heroismus oder Feigheit oder reiner Dummheit, die ihre Gemüter immer noch aufwühlen beziehungsweise ihren zahnlosen Mündern Gelächter entlocken: Es ist trotz allem ihre Jugend, über die sie sich unterhalten. Und was hat ihnen das Leben im Übrigen schon geboten? Sind sie seither noch jemals so weit herumgekommen? Haben sie je wieder einen König aus der Nähe gesehen oder eine Prinzessin in Rotkreuzuniform? Hat ihnen noch jemals ein berühmter Dichter die Hand auf die Schulter gelegt und seine unsterblichen Verse deklamiert? Haben sie je wieder mit zarten jungen Blondinen herumgeschäkert - jaja,
ohne dafür zu zahlen? Feine Damen, Engel voller Anmut, ganz anders als die wilden Weiber, die sie geheiratet haben und die ihnen bald, das wissen sie genau, Blumen aufs Grab legen werden, denn obwohl man sie hat schuften lassen, stecken sie immer noch voller Energie, diese verdammten Weiber. Sicher, heutzutage begegnet man zarten jungen Blondinen, wenn die Emigranten sie mitbringen, hin und wieder auch im Dorf. Eine andere kann man sogar von der Veteranenbank aus hinter der Fensterscheibe des Postamts sehen. Sie ist es, die ihnen am siebenundzwanzigsten eines jeden Monats - vor diesem Tag verbringen sie eine schlaflose Nacht - ihre Pension auszahlt und danach nie zu lächeln vergisst. Wenn sie in der Nacht davor kein Auge zutun, liegt das nicht nur an der Angst, dass ihnen jemand ihr Geld rauben könnte - sie sind niemals überzeugt gewesen, dass sie tatsächlich ein Anrecht darauf hätten -, sondern auch an diesem Lächeln, das sie in eine andere Zeit, nämlich in die glückliche Zeit ihrer Jugend, zurückversetzt. Ja, heute fühlen sie sich sogar zwanzig Jahre jünger, was schließlich das richtige Alter wäre, und ein kleines Geschenk könnte man ihr doch zukommen lassen, wenn sie wirklich »nett« wäre?, überlegen sie, bleiben aber stumm, während sie sie anstarren, ihre himmelblauen Augen, ihre rosa geschminkten Lippen, die weichen Brüste unter dem Seidenblüschen. Auch die Postangestellte sieht sie an - genau, es ist immer noch Berenice Dache, die immer noch auf ihre Versetzung wartet. Sie sieht in jedem von ihnen ihren Vater, ebenfalls ein Kriegsveteran, und schenkt ihm deshalb ein gerührtes Lächeln.
    Das Postamt ist übrigens ein weiteres Merkmal, mit dem ein Nest im Süden, das etwas auf sich hält, ausgestattet sein muss. Dazu kommen noch ein halbes Dutzend Kirchen, davon zwei - die beiden bedeutendsten - mit einem Campanile; zwei rivalisierende Priester; zwei Mesner, deren Intonation an den klassischen indischen khyal -Gesang erinnert und die mit ihren Melismen bei der Frühmesse die Chöre der quäkenden Witwen veredeln; eine heilige und wundertätige Reliquie für jede der beiden Hauptkirchen, Gegenstand
der Verehrung der Pfarrkinder, die sich in den verzweifelten Fällen, mit denen das Leben aufwartet, an diese wenden, wie Hunderte von Votivtafeln an den düsteren Reliquiaren bezeugen. Wenn auch die heiligen Reliquien nicht mehr helfen, kann man sich den Zaubersprüchen der Magierin anvertrauen, die normalerweise in der Nähe des kleinen Friedhofs mit Panoramablick wohnt, ebenso wie der Totengräber, der vorzugsweise verkrüppelt ist, damit er noch unheimlicher wirkt. Unentbehrlich ist auch eine Burg aus der Zeit der Normannen oder der Anjou, um die sich sonderbare Legenden ranken; eine Adelsfamilie, die am Spieltisch ihr märchenhaftes Vermögen verzockt hat und mindestens über ein Mitglied verfügt, das seine Zigarren mit großen Banknoten anzuzünden pflegte; ein alter Kern von Häusern, die manchmal bis auf das Mittelalter zurückgehen und nach Art eines Bienenstocks ineinander verschachtelt sind; ihm stellt sich talwärts ein neuer, im

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