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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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hinab und trat, nachdem ich eine Reihe flackernder Kerzen angezündet hatte, sofort mit meinem »mir innewohnenden Ahnen« in Kontakt. Offen gestanden, teilte er mir nichts Besonderes mit. Deshalb lenkte ich bei jeder passenden Gelegenheit die Gespräche mit meinen Tanten auf ihn, und je mehr Informationen ich ihnen entlockte - ihre Zurückhaltung
bei diesem Thema stachelte meine Neugierde nur weiter an -, desto stärker wuchs meine Verwunderung über den überwältigenden Schmerz, den die Großmutter vierzig Jahre nach seinem Tod empfand und der überwältigender war als der Schmerz über den Verlust ihrer eigenen Kinder. Bevor er sich nach Afrika gemeldet hatte, war Arcangelo Dichter und Weltenbummler gewesen. Nonnilde hatte zwar immer versucht, ihn daran zu hindern, aber er war zielstrebig seinen Weg gegangen und hatte so gelebt, wie auch ich leben wollte und bald schon leben würde.
    In der Zwischenzeit studierte ich, lernte Englisch und spielte seit Medoros Abgang und Zwangseinweisung die Klosterorgel. Hauptsächlich aber las ich Romane. Ich las sie in der Nacht. Es war meine liebste Beschäftigung. Ich kuschelte mich unter meine Decken und ließ nur Kopf und Hände hervorschauen - in meinem Zimmerchen herrschte eisige Kälte -, aber beim Lesen hatte ich das Gefühl, mich in eine weitere, noch weichere und wärmere Decke zu schmiegen.

    So vergingen die grauen Jahre meiner frühen Jugend, aber obgleich ich mir aufgrund der abgekapselten Existenz, die die Großmutter mir aufzwang, sehr spirituell vorkam, hatte sich meine heimliche Natur, die mich auch veranlasst hatte, mich mit kaum sieben Jahren an meine Cousine Tea heranzumachen, keineswegs beruhigt.
    Das beweisen die Stunden, in denen ich den inneren Dialog mit Onkel Arcangelo unterbreche und seine Sammlung nacktbrüstiger Berberfrauen betrachte. Einige von ihnen haben spitze Titten, die mich rasend machen. Ich werde von einer Erregung gepackt, der freien Lauf zu lassen mir nicht gelingt, und wenn ich am nächsten Morgen feststelle, dass mein Pyjama patschnass ist, ich mich aber überhaupt nicht schäme, verdanke ich das Pit und seinem Aufklärungsunterricht.
    Jeden Sommer warte ich ungeduldig, und sobald ich kann, laufe ich hinaus auf die Felder. Vitina streckt mir Pits Postkarten hin. Er ist in Marokko, in Holland, in England, in Frankreich. Er schreibt, dass es ihm gut geht. Aber er kommt nicht zurück. Mittlerweile
haben sie auf ihrem Hof eine amerikanische Küche, einen Kühlschrank, eine Waschmaschine - »Geschenke von Piètr, aber wer weiß’n schon, wie man mit so’nem Zeug umgeht?«, seufzt die Nachtigall, während sie mir die noch in Plastikfolie verpackten Gegenstände zeigt. Fausto sitzt wie üblich stumm vor dem Fernseher. Die Strandkabine steht immer noch auf ihrem Hügel.
    Wen ich aber in einem dieser Sommer wiedersehe, das ist Silvia. Sie sitzt neben einem braun gebrannten Typ in einem BMW - inzwischen kann ich die Automarken voneinander unterscheiden -, gibt ihm ein Zeichen, dass er anhalten soll, öffnet die Tür und sieht mich, ohne auszusteigen, an. In der Art, wie sie lächelt, ist etwas, was mir nicht gefällt, ebenso in der Art, wie sie mit den Wimpern klimpert und sagt: »He, Carlo, ciao. Was ist, erkennst du mich nicht wieder?« Ich zucke mit den Achseln und laufe wohl bis zu den Ohren rot an. Silvia ist wirklich eine ganz andere geworden. Ich betrachte ihre langen nackten Beine auf dem schwarzen Leder des Sitzes. Sie folgt lächelnd meinem Blick und zündet sich eine Zigarette an. »Und Pit? Was ist aus Pit geworden?«, fragt sie gleich darauf - sie hat ihn also auch nicht vergessen. Ich berichte ihr kurz. Zu kurz, denn schon stehe ich da wie ein Vollidiot, während sie versucht, mit mir zu reden und herumzublödeln. Irgendwann sagt sie: »Was ist los mit dir? Früher warst du anders.« Das stimmt. Früher war ich wirklich anders, aber jetzt hat mich Nonnilde in einen jener schüchternen, nachdenklichen, einsamen Jünglinge verwandelt, die erröten, sobald ein weibliches Wesen sie anspricht - dabei hatte ich doch mal zu den schönsten Hoffnungen Anlass gegeben! Seufzend blicke ich dem Auto hinterher. Noch kann ich es nicht wissen, aber bald sollte ein anderer das von der Großmutter begonnene Werk vollenden.

8
    Jedes Nest im Süden, das etwas auf sich hält, muss eine Piazza haben, die von zumeist kümmerlichen Linden gesäumt ist und sich an Festtagen und nach der Sonntagsmesse bevölkert; außerdem einen Brunnen, der mit

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