Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
Vom Netzwerk:
diesen Ozean von Licht ein. Dann jedoch gab es immer eine Stimme, die Carlinooo rief. Jedesmal tat ich verärgert, rannte aber doch hinunter - ich hatte Hunger, und schließlich müssen auch Poeten essen.
    Bei Tisch herrschte noch tieferes Schweigen als sonst. Die düstere Stimmung der Großmutter war wie ein vereinzelter Fleck, der dennoch das beste Kleid ruinieren konnte, eine dunkle Wolke, die eine ganze Landschaft verfinsterte. Dass Teas Hochzeit näher rückte, schien kein freudiges Ereignis, sondern ein Unglück zu sein, das über unsere Familie hereinzubrechen drohte. Ich dagegen war froh: Aus Nonnildes geistesabwesender Miene las ich die unbefristete Verlängerung meiner Freiheit heraus. Nach dem Mittagessen ging ich in mein Zimmer und zog die Läden zu, und im Dämmerlicht sah ich mir, an den Schreibtisch gelehnt, wieder einmal die amerikanischen
Fotos meines Vaters an. Ich warf mich so auf das Bett, dass die Maisblätter in der Matratze unter meinem Gewicht knirschten. Aus dem Nachtkästchen holte ich das Englisch-Konversationsbuch hervor, das ich beim Professor »entfernt« hatte, und obwohl ich Pits Rat - »Die Sprache, zuerst kommt die Sprache« - beherzigte, paukte ich nicht, wie ich es hätte tun müssen, sondern beschränkte mich darauf, die Abbildungen zu betrachten: liebenswerte Ladys, die an ihrem Tee nippten, junge Männer mit der geschmeidigen Körperhaltung von Golfspielern, Wachsoldaten mit Bärenfellmützen, vornehme Paare vor ihren in einer blühenden Landschaft verstreuten Cottages. Irgendwann döste ich ein. Es waren lange und heitere Träume, die ich träumte, und immer erwachte ich mit dem Gefühl, dass mir etwas Wunderbares widerfahren würde. Meine Cousinen, die ebenfalls von der Kontrolle durch die Großmutter befreit waren, bereiteten sich unterdessen darauf vor, früher auszugehen als üblich. Ich dagegen kehrte wieder auf meinen kleinen Balkon zurück. Die Tage vergingen, und nichts Wunderbares geschah - nichts, absolut nichts. Hin und wieder, wenn ich mich bemühte, mich für die Lektüre des einen oder anderen Romans zu begeistern, aber stattdessen beobachtete, wie sich das Blau des Himmels immer weiter vertiefte und die Luft auf der Haut frischer wurde, sagte ich mir, dass so zu verharren, den Kopf frei von jeglicher Verpflichtung, das Höchste sei, was ich für mich ersehnen konnte. Doch ich glaubte nicht wirklich daran. Ich kannte die Verlockungen der Welt - Pit hatte mir hinreichend Einblicke verschafft -, und jetzt kam es mir so vor, als würde ich meine Existenz regelrecht vergeuden. Bis eines Nachmittags etwas geschah.
    Ich schwebte wie üblich über den Wolken - sie schienen mir zum Greifen nah -, als mir bewusst wurde, dass in den Pausen zwischen den Schlagern, die aus der Jukebox dröhnten, ein bis dahin unbekanntes Stimmengewirr zu hören war. Wer konnte das sein? Das musste ich unbedingt herausfinden! Ich stieg die steile Treppe wieder hinunter, ging durch die Zimmer des großen Hauses voller Erinnerungen, warf einen verstohlenen Blick in das leere Arbeitszimmer
der Großmutter und schlich mich hinaus. Je länger ich lief, desto lauter wurde der Lärm. Auf dem letzten Abschnitt rannte ich bereits, bis hinter der Kurve die Piazza sichtbar wurde. Wie anders war sie als im Winter, wenn ich sie auf meinem Schulweg oder auf dem Weg zum Professor überquert hatte, oder damals, als ich mit Pit hierhergekommen war! Überall parkten Autos. Und wie viele Leute sich hier tummelten, so viele, dass es das Fest des Schutzpatrons zu sein schien, nur dass heute nicht sein Tag und auch die Menge nicht die übliche Dörflerschar war, die sich aus diesem Anlass vor den Bars zusammendrängte. War vielleicht die neue Renaissance angebrochen, wie mein Meister Corelli es sich wünschte? Hatte man endlich seine mannigfachen Publikationen und die »enormen geschichtlichen, landschaftlichen und kulturellen Schätze unserer uralten Ortschaft« zur Kenntnis genommen? Und strömten nun, genau wie von ihm vorausgesagt, aus allen Himmelsrichtungen große Massen von Touristen hierher? Zum ersten Mal tat es mir leid, dass er abgereist war; er hätte mir gewiss eine Antwort geben können. So ging ich weiter. Mein Herz pochte wie wild bei dem Anblick, und ich setzte mich auf die Stufe, auf der ich mit Pit gesessen hatte, um das seltsame Treiben einer genaueren Prüfung zu unterziehen.
    Auf der Piazza wimmelte es vor allem von jungen Mädchen. Sie stolzierten hochmütig wie die Sommerfrischler auf dem

Weitere Kostenlose Bücher