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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Corso irgendeines exklusiven Urlaubsorts umher. Mit ihren Miniröcken, dem Make-up und den frisch gewaschenen Haaren waren sie ganz anders als die einheimischen Mädchen. Wie berauscht folgte ich ihnen mit dem Blick, während von den Tischen der Bar die Gespräche der erwachsenen Fremden an mein Ohr drangen. Ihr Akzent kam mir trotz ihrer städtischen Nonchalance vertraut vor. Sie erzählten der eingeborenen Bevölkerung, die zwischen Bewunderung und Ungläubigkeit schwankte, wie unvergleichlich besser - ja sogar »besserer« - das Leben da oben in Italiens Norden war. Und durch dieses Geplauder erfuhr ich nun, dass die Mädchen mit dem snobistischen Gehabe nichts anderes waren als die Töchter
von Fiat-Arbeitern aus Turin, Amtsdienern der Gemeinde Trient, Schuhverkäufern aus Cinisello Balsamo, Bremsern der Staatlichen Eisenbahn in Vercelli oder Lagerverwaltern aus Abbiategrasso. Mit einigen Jahren Verspätung machte sich der Boom auch bei uns bemerkbar - klar, dass ich zu jener Zeit ebenso wenig wie die meisten meiner Mitbürger mitbekommen hatte, dass es diesen wirtschaftlichen Aufschwung überhaupt gab. Die Emigranten konnten sich, nachdem sie ihre armseligen Reichtümer angehäuft hatten, den Luxus eines Urlaubs leisten, und so waren auch in unserem Kaff endlich die Turist eingetroffen, wie wir sie trotz allem nach einiger Zeit nannten.
    Meine Enttäuschung - auch wenn ich nie ernsthaft an eine neue Renaissance geglaubt hatte - hinderte mich nicht daran, jeden Nachmittag pünktlich auf die Piazza zurückzukehren, denn vormittags war sie nach wie vor menschenleer. In aller Frühe machten sich nämlich die Turist -Familien, die selbst schon groß genug waren und dann noch den einen oder anderen ortsansässigen Verwandten - normalerweise betagte Mütter oder Tanten plus abwechselnd je einen Neffen oder eine Nichte - im Schlepptau hatten, in ihrem Fiat 600 auf die Reise ans Meer, zusammengedrängt, aber glücklich, dass sie an diesem neuen und verführerischsten kollektiven Ritual des italienischen Wirtschaftswunders teilnehmen konnten. Und so legten sie mindestens fünfzig Kilometer Kurven auf der Hinfahrt und natürlich ebenso viele auf der Rückfahrt zurück, auch wenn sich die Heimfahrt stets dramatischer gestaltete: Vor allem die Turist -Väter, die kaum an die Freuden des Strandlebens gewöhnt waren, mussten feststellen, dass sie wegen zu langer Sonneneinwirkung mit Blasen bedeckt waren, und schwankten im anschließenden Fieberwahn zwischen ekstatischen Visionen: »Natürlich iss’s Meer schön und die Luft gut« und realistischeren Einschätzungen: »Diese ganze Straße und bei dieser Hitze, und dann der ganze Sand, der an einem pappen bleibt - wenn ich wenigstens schwimmen könnte! So’n Affentheater, aber’s gehört eben dazu«, dachten aber stets auch an die Sonnenbräune ihrer Frauen und
Töchter und an das gesellschaftliche Ansehen, das ihnen diese verleihen würde.
    Jeden Nachmittag setzte ich mich nun auf meinen Stammplatz und sah zu, wie die Turist -Mädchen vorbeidefilierten. Ich lauschte den Gesprächen der Turist -Väter und merkte, dass sie - auch dank der anregenden Wirkung des Alkohols, weil an diesen Tischen ganze Hektoliter von Sambuca, Anisschnaps und Bier konsumiert wurden - außer dem Lack des fremden Akzentes allmählich auch ihren anfänglichen Optimismus verloren. »Wer versteht’n die schon? … Bei denen geht’s immer nur um Pinkepinke« - »Die ham bloß ihre Soldi im Kopf«, übersetzten sie für die Anwesenden, nachdem diese sie verdutzt angeschaut hatten. »Und die Weiber erst! Alle Nutten.« Dann müssen ihnen ihre Töchter eingefallen sein, die ja insofern auch Frauen des Nordens waren, als sie in nördlichen Gefilden geboren und aufgewachsen waren, und sie schoben rasch ein »Fast alle« hinterher. Manche hatten sogar so eine geheiratet, eine Frau aus dem Norden: »Meine Frau, die Turinerin, nein, die iss keine Nutte, im Gegenteil: Die iss ehrlich, sauber, arbeitsam, aber dermaßen launisch, dass ich oft den Tag verfluche, an dem ich sie geheiratet habe«, und stellten plötzlich fest, dass besagte Zicke schon ungeduldig auf sie wartete. Dann sahen sie auf ihre Uhr, in der Regel eine Wonder Watch mit JUVE-Armband, und erklärten mit einem resignierten Seufzer: »Tja, es iss spät geworden. Ich muss die Turinerin spazieren führen, ciao né «, und handelten sich so außer dem Spottnamen Ciaoné auch noch die endgültige Verachtung ihrer Mitdörfler ein, weil sie die

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