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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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ausgestattet, zu einem kleinen, unlängst von mir entdeckten Balkon hinauf.
    Um dorthin zu gelangen, öffnete ich die mit der vergilbten Tapete verkleidete Tür eines unbenutzten Salons und ging eine steile Treppe nach oben. An deren Ende war ein Fenster: ein Innenfenster mit Spitzbogen, das mit rechteckigen Butzenscheiben verglast war. Ich drückte die Nase gegen das Glas - eine Art alte konvexe Linse -, und während ich das verzerrte Bild des großen Eingangssaals betrachtete, klangen auch die Stimmen meiner Tanten und die Befehle meiner Großmutter verzerrt - so kam es mir jedenfalls vor. Ich war jetzt ganz oben und unerreichbar weit weg, und noch weiter weg war ich, nachdem ich den Weg über die Dachböden zurückgelegt hatte. Kreisende Lichtbündel beleuchteten die Haufen jener Bücher, die Nonnilde nur dieses kahlen Ortes für würdig befunden hatte. Wie erleichtert war ich gewesen, als ich zum ersten Mal darauf gestoßen war!
    Der Professor hatte mich oft gefragt, ob es bei uns eine Familienbibliothek
gäbe, da die Di Lontrones, wie aus der Partikel vor dem Nachnamen hervorging und wie unsere genealogischen Nachforschungen bestätigt hatten, eine Familie alter Abstammung waren und somit zwangsläufig eine Bibliothek besitzen mussten. Oft hatte er seinen Besuch angedroht, um seine Hand auf diesen veritablen Schatz zu legen, doch jetzt war ich mir sicher, dass ihm das niemals gelingen würde. Die Großmutter würde nicht wissen, was sie ihm sagen sollte - sie neigte dazu, alles zu vergessen, was sie nicht für beachtenswert hielt -, und ich würde mich hüten, ihm meine Entdeckung zu verraten. Kaum auszumalen, welche Mühen es mich kosten würde, diese muffigen Bücher in einen geeigneteren Raum zu transportieren, sie nach Autoren zu klassifizieren, nach Themen und Größe zu ordnen, während ich sie jetzt alle für mich allein hatte - ebenso bereit, mich willkommen zu heißen, wie das strahlende Blau des Himmels, die im Laufe der Zeit ausgeblichenen Dächer und das mit weichem Moos bedeckte Mäuerchen.
    Auf diesem kleinen versteckten Balkon übergoss ich mich hin und wieder mit der Gießkanne - das Wasser aus der Brause fühlte sich so sanft an auf der Haut -, um die heiße Sonne besser genießen zu können; dieser kleine Luxus gab mir das Gefühl großer Kultiviertheit. Von dort hörte ich nun, wie sich die Stille, unterbrochen nur vom fernen Brummen der Traktoren, langsam mit Klängen füllte: den Stimmen der Kleinen aus dem Kindergarten, den Glocken der Elfuhrmesse, dem Ave Maria von Schubert, das Don Silvestro bevorzugte und dem Don Luigi aus der Mutterkirche sogleich das Ave Maria von Gounod folgen ließ. Schließlich mischten sich in dem von ihrem Echo noch widerhallenden Raum die sakralen Melodien mit den profanen Liedern aus den Jukeboxes, die im Sommer auf die Piazza hinausgetragen wurden.
    Die Piazza selbst sah ich nicht. Ich sah nur die Dächer des Dorfs und die Berge, die sich unter den Strahlen der Sonne verflüssigten. So blieb ich stundenlang sitzen und phantasierte, und mein Geist erzeugte ein Summen wie das von Bienen. Dies ist nur eine Episode meines Lebens, sagte ich mir mit Blick auf die glänzende Zukunft -
als Musiker, als Archäologe, als berühmter, mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Schriftsteller -, die in Amerika auf mich wartete, aber unwillkürlich wurde mir das Herz schwer. Aus der Distanz von Jahren und zu einem Zeitpunkt, da sich Silvia - mit ihrem mittlerweile so zynischen Blick - gewiss nicht mehr daran erinnerte, konnte ich nun jenes Gefühl verzehrender Sehnsucht nachvollziehen, das sie mir in jener fernen Augustnacht beim Anblick des Horizonts anvertraut hatte, jenes Horizonts, der sich jetzt vor mir erstreckte und von dem ich mich in wenigen Jahren für immer trennen würde. Auf der Woge des Hochgefühls und mit der Wucht eines über die Ufer tretenden Flusses quollen aus meinem Herzen die Verse meines ersten und bereits erhabenen Gedichts hervor: Süße verlorene Horizonte , jenes Werk, das mich in der ganzen Welt bekannt machen würde. Vom Feuer der Inspiration entflammt, dichtete ich weiter, bis die Sirene die Stunde des Mittagessens verkündete. Die Geräusche der Piazza verstummten schlagartig, aus dem Tal drang kein Traktorengeknatter mehr herauf, und sogar die Schwalben stellten das Fliegen ein. Dies war der Augenblick, den ich am meisten liebte: Ich blickte auf die nunmehr transparenten Berge und tauchte, nachdem ich Heft und Bleistift beiseitegelegt hatte, ganz in

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