Ferne Verwandte
Süden, das etwas auf sich hält, zu verfügen hat, ein Stichwort hinzufügen. Ein Wort, das bei uns verschüchterten Südländern bis dahin - wir befinden uns am Ende der sechziger Jahre - fast unbekannt war und dessen Einführung sich der jüngst erfolgten Verbreitung der Skandalblätter verdankte, außerdem den nicht häufigen, aber doch sehr geschätzten Fernsehreportagen über die Kinowelt und die High Society sowie den Filmen über die sexuellen Gepflogenheiten der nordischen Völker, und da insbesondere der Schweden. Zusammen mit der Einführung des Bikinis, des Minirocks und der Langhaarfrisuren markierte dieses Wort das Ende einer Epoche: das Ende der guten alten Zeiten, als alles seine unumstößliche Ordnung hatte. Das Wort, um das es geht, lautet: »homosexuell« - oder gemäß der Interpretation der Einheimischen: uomo sexuell.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich hat es bei uns auch vorher schon Homosexuelle gegeben, wie die bereits vorhandenen Dialektbegriffe ricchione und recchione - in der kontrahierten Form auch recchia - bezeugen, aber die praktische Ausübung eines solchen Verhaltens war so absolut unvorstellbar, so unendlich weit vom gesunden Menschenverstand entfernt, dass man seine Existenz lieber negierte. Infolge der oben erwähnten epochalen Umwälzung jedoch musste sich jedes Nest im Süden mit einem recchia -Paar versehen, und angesichts der seltenen Bereitschaft der fraglichen Personen, sich öffentlich zu bekennen,
und in Anbetracht zudem der bis dahin niemals Lügen gestraften Rechtschaffenheit der Einheimischen, zog man es generell vor, es in der Kategorie der ganz oder teilweise auswärtigen Elemente zu orten, als da waren: beurlaubte Lehrer oder Professoren, Priester oder sonstige Angehörige des geistlichen Standes, die nach einigen Jahren um ihre Versetzung gebeten hatten, Schausteller, die von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zogen, oder Emigranten, die andernorts auf dieses Laster verfallen waren - »bevor er weggezogen ist, war er ganz normal; es ist die Großstadt, die sie verdirbt«. Deshalb genügten bereits ein Gesicht mit feinen Zügen, eine natürliche Eleganz des Auftretens, ein ungewöhnlich elastischer Gang und eine etwas leise Stimme, um sich den Ruf eines uomosessuale einzuhandeln. Es war die alte Zeit, falls sie denn überhaupt untergegangen ist, in der man so gutmütige Sätze hören konnte wie: »Schau mal diesen weibischen Typ an. Besser, dein Sohn ist tot als ein recchia/ricchione/ uomosessuale .« Wenn dann der weibische Verdächtige tatsächlich ein uomosessuale war, blieben ihm, sofern er aus dem Ort stammte, nur drei Möglichkeiten: sich aufzuhängen, verrückt zu werden oder sich selbst dann, wenn er über ausreichende Mittel verfügte, in das gewaltige Heer der Auswanderer einzureihen. Eine vierte - die häufigste - Option bestand darin, vor sich selbst zu allererst und dann vor allen anderen die eigene Natur zu verleugnen, sich mit der aufgezwungenen zu arrangieren und darauf zu hoffen, dass mit den Jahren, der Ehe und den Kindern, die daraus hervorgehen würden, die »Gerüchte« verstummten.
Man wird also das qualvolle innere Drama nachvollziehen können, das ich an jenem Nachmittag durchlebte, als ich mit meinem ehemaligen Ministrantenkollegen Lucio zum Fußballplatz mitgegangen war - ich, der ich bereits mit den genannten Merkmalen der eleganten Haltung, der physiognomischen Feinheit, der femininen Stimme und der künstlerischen Sensibilität ausgestattet war und bislang nur aufgrund meines zarten Alters nicht als uomosessuale abgestempelt worden war - und mich in einen der Jungen verliebte, die an jenem Nachmittag dort Fußball spielten. Aber warum sage
ich, in »einen« der Jungen? Er war der Einzige, den ich überhaupt sah.
Ich erinnere mich noch an seinen zärtlichen Blick, die großen haselnussbraunen Augen, die Haare mit dem Bürstenschnitt, die im Nacken unglaublich weich aussahen, die statuengleichen Waden, die von den bis zu den Knöcheln hinabgerollten Stutzen absichtlich bloßgelegt waren, den Dress aus türkisfarbenem Nickisamt, der seine glatte Haut, die brauner war als meine nach einem Monat auf dem Balkon, noch besser zur Geltung brachte, und die phantastischen Sportschuhe eines echten Fußballers. Wie alle Klassekicker jener Zeit war Nicolás - so hieß er, und schon bald wurde sein Name für mich zur Obsession - ein Auslandsitaliener, ein italienischstämmiger Argentinier. Ihn spielen zu sehen war ein Hochgenuss. Hin und
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