Ferne Verwandte
Emigranten, die über die heimatlichen Grenzen hinausgedrungen waren.
Wenn man eine fremde Sprache hörte, Kleider ungewöhnlichen Zuschnitts erblickte, ein unbekanntes Nummernschild ortete oder einen jener riesigen rosa-, zyklamen- oder pastellfarbenen, mit Heckflossen versehenen und mit zentnerweise Chrom verzierten Straßenkreuzer wie ein glänzendes Raumschiff durch unser Dorf gleiten sah, dann begann man von einem anderen Leben zu träumen, denn das unsere kannten wir ja schon. Wenn die Stranier - diese Bezeichnung unterschied sie von den Turist ciaoné - aus ihren funkelnden Wagen der Extraklasse stiegen, eine weiße Mentholzigarette im Mund und eine ausländische Frau am Arm - die oft ebenso gemietet war wie das Auto -, und mit überheblicher Miene eine Bar betraten, ging unser höchstes Streben dahin, uns mit ihnen anzufreunden, damit sie uns von diesem anderen Leben erzählten.
Aber auch sie waren nicht alle gleich. Der effektive Wert jedes Einzelnen wurde unter Zugrundelegung einer Reihe von Kriterien
genau abgeschätzt, von denen das erste in der geografischen Distanz zur jeweiligen neuen Wahlheimat bestand. Auf der untersten Ebene befanden sich folglich die Schweizer, Franzosen, Deutschen und Belgier - auch wenn in unseren Augen ein Bewohner der unglaublich weit entfernten Stadt Essen weniger Prestige besaß als einer aus Paris, was auf einem weiteren Kriterium, nämlich der historischökonomisch-sozialen Bedeutung der neuen Wohnorte, beruhte. Es liegt auf der Hand, dass die Kriterien bei den - tatsächlich eher seltenen - Fällen eindeutig prominenter Persönlichkeiten (Künstler, Gangster, Sportler oder Industrielle etwa) keinen Bestand hatten, obwohl deren unbezweifelbare Qualitäten dennoch nicht ausgereicht hätten, sie zum Gegenstand höchster Wertschätzung zu machen, denn dazu mussten sie unbedingt aus dem Ausland kommen. Den höchsten Rang nahmen zweifellos die Transkontinentalen ein. Das heißt jedoch nicht, dass die Spitze der Pyramide den in die Vereinigten Staaten Emigrierten gehörte, wie man angesichts der Entfernung, des Reichtums und des Einflusses dieser Nation hätte vermuten können. Nein, der Lorbeer ging vielmehr oft an die nach Kanada, Kolumbien und Uruguay Ausgewanderten. Das waren weniger bekannte Länder, denen schon deshalb ein höheres Quantum an Faszination und Mysterium zuerkannt wurde - womit wir beim dritten Kriterium wären.
Im Sommer jenes Jahres und trotz seines zarten Alters war eben Nicolás der begehrteste Stranier , die Lichtgestalt vom Dienst, derjenige, den alle zum Freund haben wollten. Schöner, begabter und eleganter als jeder andere kam er von sehr weit her, und da er zudem in einer geheimnisvollen Stadt lebte - in der er, wie es schien, keinen Geringeren als Omar Sívori, den seinerzeitigen Spitzenspieler mit italienischen Wurzeln, zu seinen Lehrern gezählt hatte -, erschien uns der junge Fußballstar Nicolás als die Verkörperung der Ausländerüberlegenheit schlechthin, als der unvergleichliche Prototyp der Rassenmischung, das vollkommenste Produkt der Diaspora, die unseren Stamm meridionaler Gebirgler veranlasst hatte, selbst die unermesslichen Prärien Argentiniens
zu bevölkern, Gegenden, die trotz des Namens kein Silber besaßen und dennoch reich waren, zum Beispiel an Fußballfeldern.
Ich weiß nicht, wie es den anderen erging - und das war der Kern meines inneren Dramas -, doch jedes Mal, wenn ich ihn sah, fing mein Herz heftig zu pochen an, ganz zu schweigen davon, was geschah, wenn er blitzschnell wie ein Puma im Gran Chaco (466.500 km2) auf das gegnerische Tor zuflog. Auch ich lief und lief an diesen unendlichen Nachmittagen, während die Berge des Apennin, die mir jetzt zwergenhaft vorkamen - im Vergleich zum Aconcagua mit seinen 7.040 Metern -, unter den roten Strahlen der untergehenden Sonne ohnehin kaum noch wahrnehmbar waren. Am Abend wanderte mein letzter Gedanke zu ihm, und am Morgen galt ihm der erste, wenn ich aufwachte. Ich konnte den Augenblick nicht erwarten, da ich ihn wiedersehen würde, und war es so weit, spürte ich, wie mir die Knie weich wurden und die Sprache versagte. Diesen Zustand kannte ich gut. In den Wochen davor hatte ich überhaupt nichts anderes getan, als mich zu verlieben, aber in entzückende Mädchen aus dem Norden und niemals in italienischstämmige Fußballer: Ich war ein Homo geworden, daran gab es keinen Zweifel, und kaum war ich mir, obwohl ich es in jeder Weise vor mir selbst zu verleugnen suchte, dieser
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