Ferne Verwandte
daran, sagte ich mir, es ist nur ein Sympathiebeweis - Ausdruck einer gesunden und natürlichen Sympathie. Mittlerweile wusste ich aber nicht mehr, was ich tun sollte. Statt ihn anzureden und ein bisschen mit ihm zu plaudern, wie es »natürlich« gewesen wäre, verließ ich den Saal und kam wieder herein und versuchte vergebens, mich den düpierten Jungen anzuschließen - der ältere Palmieri war voll im Einsatz -, aber die hatten anderes im Kopf. Während meines Hin und Hers bemerkte ich Ildina, die auf einem Stuhl saß und düster dreinblickte, und bekam Mitleid mit ihr. Wenn sich dieser Lackaffe
von José amüsierte, verdankte er das schließlich meiner melancholischen Cousine! Kaum war eine Platte zu Ende, nahm ich sie also, führte sie mit Gewalt zu ihm und sagte bestimmt: »Jetzt tanz mit ihr!«
Er starrte mir in die Augen, sah Ildina an, und ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen. Er packte sie jäh und zog sie auf die Tanzfläche. Ich trat ein paar Schritte zurück, fassungslos über das, was ich soeben getan hatte, und ließ mich auf die erstbeste Couch fallen - die Couch von Nicolás. Als ich den Kopf drehte, war ich bereits rot im Gesicht. Er reckte das Kinn in meine Richtung, gab mir einen Klaps auf den Schenkel und sagte: »Hola, caro amigo Carlino!« mit der süßesten Stimme, die ich je gehört hatte - der Stimme eines argentinischen Schlagersängers.
»Ciao, Nícolas«, wisperte ich, wobei ich vor Erregung den Akzent auf die falsche Silbe setzte, und wir starrten schweigend auf die tanzenden Paare. Dann löschte jemand, wie es bei diesen Partys üblich ist, die Lichter, und im Dunkeln spürte ich, wie sein Körper dem meinen näher rückte und mir das Blut in den Kopf stieg, während ein Schlachtruf erscholl: ri-cchio-nì, ri-cchio-nì, ri-cchio-nì . Doch jedes Mal, wenn das Licht wieder anging und ich mich erschrocken umschaute, schienen mich nur die zum Treubruch entschlossenen Mädchen zu bemerken, weil ich ja neben dem Objekt ihrer Begierde saß. Die Jungen, denen der Betrug noch nicht gelungen war, sorgten hingegen dafür, dass sie den Blick wieder abwandten - viele blaue Flecken schmückten die Arme in jener Nacht. Dann ging das Licht wieder aus, und ich wurde erneut in den Strudel hineingesogen, bis Nicolás’ Hand von der Rückenlehne auf meine Schulter fiel.
In jenem Moment entschied sich der Lauf meines Lebens - einer der Läufe. Mit einem Satz sprang ich auf und landete bei Danila, einem jener Turist -Mädchen, die sich frei nach der Maxime »Teile und herrsche« Ilde angeschlossen hatten, um den Markt besser kontrollieren zu können. Sie war nicht weniger nett als die anderen und gewiss »verfügbar«. So führte ich sie, ohne weiter nachzudenken,
in die Mitte des Saals. Während ich den ersten Tanz meines Lebens tanzte, küsste ich auch den ersten Kuss meines Lebens. Es kostete mich keine große Mühe - was die Turist -Väter über die Nordländerinnen sagten, schien voll und ganz zuzutreffen. In Wirklichkeit hatte Danila, wie ich in der Folge begreifen sollte, als Teil der Schar von Nicolás’ Anbeterinnen, die Leidenschaft, die sie für ihn hegte, einfach auf mich - seinen Freund - übertragen. Er hatte mich unterdessen vergessen, und als ich nach einer Weile auf die Couch blickte, war er verschwunden. Auch José war verschwunden. Und Ildina.
Sie kehrte zwei Tage später nach Hause zurück. Die Großmutter, die in der Zwischenzeit erfahren hatte, wer sich die Mühe gemacht hatte, ausgerechnet den Entführer ihrer Enkelin zu der Party einzuladen, sagte nichts. Auch während Onkel Erminios Wutausbruch hielt sie den Mund. Und nachdem Onkel Erminio das melancholische Gesicht seiner Tochter durch ein paar Maulschellen entstellt und sie in die Holzkammer gesperrt hatte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Erst dann sagte sie: »Jetzt muss er sie heiraten … Eine schnelle Heirat, eine Mussheirat«, sagte sie, ohne ein - bei ihr äußerst seltenes - Lächeln unterdrücken zu können.
An jenem Tag bestand sie darauf, dass mir bei Tisch gleich nach ihr aufgetragen wurde, so wie in den schönen alten Zeiten. Schließlich und endlich war es mein Verdienst, dass Ildinas Hochzeit überhaupt nichts kosten würde und sie darüber hinaus eine Methode gefunden hatte, wie sie auch für ihre übrigen Enkelinnen keine einzige Lira auszugeben brauchte. Dabei handelte es sich doch eigentlich um dasselbe System, das sie schon bei meinem Vater angewandt und mit dem sie sein Leben
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