Ferne Verwandte
lebende Tiere: Biber, Hirsche, Jaguare, Affen, Tapire, Pumas, Ameisenbären. Mineralien: Blei, Zinn, Mangan, bedeutendere Produktion von Erdöl und Wolfram , aber - und das erstaunt mich am meisten - nicht die Spur von Silber. Warum heißt das Land dann ausgerechnet Argentinien, sprich: Silberland? Vielleicht weil das Silber in der Zwischenzeit ausgegangen ist, oder vielleicht hat es dort ja auch nie Silber gegeben, sondern nur irgendwo in der Nähe, und Magellan hat das, bei all dem Zeug, das er entdeckt hat, einfach verwechselt.
Um sich eine Vorstellung von Nicolás’ Leben zu machen, erwiesen sich außer dem Erdkundebuch auch jene Informationen als nützlich, die ich in den Bars aufschnappte. In Argentinien, das heißt in den größten Städten: Buenos Aires, Rosario, Mendoza, Córdoba, Santa Fe und sein Paraná - in diesem Namen, oder in seinem Klang vielmehr, lag bereits die ganze Gleichgültigkeit, mit der er die Gegner ausspielte -, in diesen Städten also fand man nach Aussage der bestinformierten Dorfbewohner manchmal vier, fünf, ja zehn Fußballfelder hintereinander - 2.795.692 km 2 sollten ja wohl auch ausreichen! -, und alle mit grünem Rasen, bitte schön, nicht so wie unsere verdorrte Grasfläche. Sie waren bestückt mit
blutjungen Kickern - von Kindesbeinen an gefördert, damit sie berühmte Spitzenfußballer wurden -, die vor dem Training riesige Beefsteaks verdrückten, viel größer als unsere T-Bone-Steaks alla fiorentina - kein Wunder, bei 51.000.000 Stück Vieh! -, und nicht wie wir armen Kinder des italienischen Südens nur drei- oder viermal im Monat Fleisch vorgesetzt bekamen, zumal deren Fleisch frisch war und von höchster Qualität und nichts gemein hatte mit dem Dosenfleisch der Firma Simmenthal, das zusammen mit den ersten gammeligen und faserigen Batteriehühnern oft auf unserem Tisch landete (die Käfighaltung war damals noch nicht besonders ausgereift). All diese Informationen ließen mir ihn und dieses Land immer großartiger und fabelhafter erscheinen, und ich war nicht der Einzige, der so dachte.
Das hing wohl mit der Tatsache zusammen, dass die Ausländer uns im Krieg besiegt hatten und uns dann, statt uns zu zertreten, wie es ihr gutes Recht gewesen wäre, sogar noch den Wohlstand geschenkt hatten. Außerdem wurden alle, die arm ins Ausland aufbrachen, dort reich, und wer an einer schweren Krankheit litt, wurde ins Ausland geschickt und kam nach vielen Monaten geheilt zurück, auch wenn diese Leute nie mehr die Alten sein sollten: Erwachsene mit schleppendem Gang, im Zuge endloser chirurgischer Eingriffe, über die sie ihr Leben lang berichten würden, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt; Kinder mit einer blassgrünen Aura infolge der notwendigen Bestrahlung, die in der Regel auch dazu führte, dass sie klein blieben, aber nach Art der Marsmenschen einen großen Kopf hatten. Es hatte wohl ebenfalls mit dem Zufall zu tun, dass die schönsten Filme, die seinerzeit nur an den Sommervormittagen im Fernsehen oder an den kalten Wintersonntagen im Pfarrkino gezeigt wurden - die abenteuerlichsten mit den phantastischsten Landschaften und diesen Frauen mit dem unwiderstehlichen Blick, den Revolverhelden, Soldaten und unerschrockenen Forschern, den Detektiven von unerhörter Eleganz, die Zigarette im Mundwinkel, die eiskalten Augen im Schatten breitkrempiger Hüte, die schmalen Krawatten
an den Kragen der unter den dunklen Kleidern blendend weißen Hemden, immer makellos trotz der Schlägereien -, ausländische Filme mit ausländischen Stars waren. Ja, selbst die italienischen Darsteller der Helden des klassischen Altertums - Herkules, Samson und Maciste - wurden uns als Ausländer präsentiert: Wer hätte schon die Faszination eines Alan Steel und eines Kirk Morris gegen die eines schlichten Sergio Ciani oder Adriano Bellini - so ihre wirklichen Namen - eintauschen mögen? Es hing wohl auch mit dem Umstand zusammen, dass die schönsten Schlager - die schönsten vielleicht deshalb, weil wir ihre Texte nicht verstanden - ebenfalls aus dem Ausland kamen; dass die größten Errungenschaften der Wissenschaft - die Atombombe, die Weltraumraketen, das Fernsehen - aus dem Ausland stammten; dass die größten Politiker, Industriekapitäne und Sportler und auch die aufregendsten Künstler Ausländer waren. Kurzum, wir lebten in Jahren uneingeschränkter Ausländerfreundlichkeit - Jahren, in denen wir jeden für überlegen hielten, der von außen kam, und das galt auch für die
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