Ferne Verwandte
mich erneut an ihr und den übrigen Cousinen vergriffen hätte, etwas, was ich mir in diesem Augenblick trotz der unseligen Nacht mit Tea bald wieder zu tun schwor, denn nur so würde ich meine krankhafte Natur korrigieren - nicht mit Gymnastik. Dann sah man Nicolás aus den Umkleideräumen kommen, und ich wurde in seine Richtung gestoßen. Ich leistete keinerlei Widerstand und ging ihm entgegen. Fast hatte ich schon die halbe Strecke zurückgelegt, als mich jemand am Arm zog. Ildina, die dritte Erstgeborene mit dem Namen der Großmutter und trotzdem meine Lieblingscousine, bat mich in dem ihr eigenen melancholischen Tonfall: »Lad auch José ein, seinen Bruder … bitte, bitte.«
»Geht in Ordnung, Cousinchen«, antwortete ich und sah, wie sie mit ihrem schiefen, aber harmonischen Gang zu ihren Freundinnen zurückkehrte. Sie konnte gewiss nicht ahnen, dass sie soeben jene Maschinerie in Bewegung gesetzt hatte, die zu ihrem traurigen Ende führen sollte. Auch ich hätte mir das nicht vorstellen können, im Gegenteil. Ich atmete erleichtert auf, denn ihre Bitte kam mir gelegen. José war groß, robust, seine Haare glänzten vor Brillantine, und er war ein paar Jahre älter als Nicolás. Im Gegensatz zu ihm kickte er hundsmiserabel, was ihn jedoch nicht daran hinderte, als großer Herzensbrecher aufzutreten. Ich würde die Einladung an ihn richten und ihm sagen, dass er seinen Bruder mitbringen soll, was ich ein paar Minuten später auch tat. Dann blieb ich die ganze Nacht wach, um zu entscheiden, ob ich auch hingehen sollte - tatsächlich hätte mich niemand daran hindern können.
Es war ein großes, denkwürdiges Fest. Die Brüder Nicolás und José Palmieri - groß, sonnengebräunt und Ausländer - glänzten in ihren engen schwarzen Jeansanzügen mit den ockerfarbenen Nähten, den silbern schimmernden Metallecken am Hemdkragen und den bunt bemalten Gürteln und Stiefeln wie die beiden letzten Sterne am frühen Morgenhimmel. In jener Nacht gingen viele Liebesbeziehungen und Treuegelöbnisse in die Brüche: Der schöne und eingebildete José und der noch schönere, aber feine Nicolás waren wie dafür geschaffen, sentimentale Neigungen zu befriedigen, und die in großer Zahl anwesenden Mädchen teilten sich auf in zwei Lager von Verehrerinnen, die zu allem bereit waren, um ihren Auserwählten zu erobern. Ich beobachtete, wie sie Nicolás umringten, der desinteressiert und mit gedankenverlorenem Blick auf einer Couch saß, während sie sich neben ihn setzten, ihm Süßigkeiten brachten, ihm etwas ins Ohr flüsterten. Ich sah, wie José in einem fort Zigaretten anzündete und ausdrückte, Hüften umschlang, mit romantisch-argentinischen Sätzen um sich warf, die ihren Reiz auch dann nicht verloren, wenn er sie in unseren Dialekt übersetzte (die italienische Hochsprache war ihm völlig unbekannt). Ich betrachtete die betrogenen Jungen, die sich mit finsterer
Miene auf die Terrasse zurückzogen, um nervös eine zu rauchen und sich grausame Rachefeldzüge gegen ihre treulosen Mädchen auszudenken, dieselben, die ihnen bis vor einer Stunde ewige Liebe geschworen hatten. Unterdessen legte jemand eine Platte auf, und man begann mit den Tänzen, die sich nach der goldenen Regel des Drei Schleicher, ein Shake in die Länge zogen - es war übrigens Pits Regel, die in der Zwischenzeit an die lokalen Gepflogenheiten angepasst worden war.
José tat nichts, als seine Partnerinnen zu wechseln: Er drückte sie an sich, begrapschte sie und führte sie in die dunkelsten Ecken, aus denen ihr Gelächter zu uns drang. Nicolás dagegen saß die ganze Zeit allein herum und eroberte, nachdem er es schon auf dem Fußballplatz getan hatte, die Herzen der beinahe Betrogenen zurück - welche jetzt die enttäuschten beinahe Treulosen in Umarmungen nötigten, die schon etwas Bedrohliches hatten. Mein Herz eroberte er aus ganz anderen Gründen, die man nicht laut aussprechen durfte. Ich hörte nicht auf, mir zu wiederholen, dass vielleicht auch er … Warum sitzt er dort so finster herum, wenn er doch nichts anderes zu machen bräuchte, als sich ein Mädchen auszusuchen? Dieser Gedanke richtete mich auf und schmetterte mich zugleich nieder. Wenn sogar der große Nicolás ein Homo war, konnte ich es doch auch sein - nur, dass er bald nach Argentinien zurückkehren würde, während ich genau wusste, wie mein Leben hier dann aussehen würde. Tatsache ist, dass ich irgendwann seine Blicke immer eindringlicher auf mir ruhen fühlte. Was ist schlimm
Weitere Kostenlose Bücher