Ferne Verwandte
faszinierendste Ansage von allen: Wale in der Straße von Messina gesichtet - imposante Rücken unter dem fahlen Mond, von Seeleuten mit einem nicht auf den Karten eingezeichneten Archipel, einem aus der Tiefe aufgetauchten Atlantis verwechselt. Bisweilen vermeinte ich sogar ihren Gesang zu hören, zumal diese erstaunlichen Wesen ja jedes Jahr in der Paarungszeit ein anderes Lied anstimmen, genau wie wir im Sommer. Und selbst wenn gerade nicht Sommer war, sang stets eine meiner Cousinen ähnliche und ebenso herzzerreißende Melodien vor sich hin.
Nächtliche Orgasmen - nichts als die Vollendung der kaum ein paar Stunden zuvor bei den heimlichen Begegnungen mit ihren ungestümen Liebhabern nur angedeuteten. Die Liebhaber hatten sie sich, dem Beispiel Ildinas folgend, zugelegt: Heiraten bedeutete, sich von den Fesseln der Familie und des Lernens, vor allem aber Nonnildes zu befreien, und zwar mit deren uneingeschränkten Zustimmung. Ich griff nach der abgelegten Unterwäsche der Glücklichen, vergrub mein Gesicht in den noch schweißgetränkten Büstenhaltern, in den feuchten, wohlriechenden Höschen und in den Strümpfen, die während der leidenschaftlichen Vereinigungen Laufmaschen bekommen hatten - in allen waren, wie Fische im Netz, Härchen und Schuppen ihrer glühenden Haut hängen geblieben -, und holte mir auf der Stelle einen runter.
Dann waren diese glücklichen Zeiten plötzlich vorbei. Im Laufe weniger Jahre hatte sich das große Haus meiner Großmutter geleert. Eine nach der anderen hatten meine zwanzig Cousinen geheiratet, und zwar in einer seltsam wohlgeordneten Reihenfolge: zuerst die Erstgeborenen, dann die Zweit-, Dritt- und Viertgeborenen. Und alle ehelichten Männer von außerhalb: Lieferanten, Lehrer, die pendelten, Lastwagenfahrer, Straßenhändler - Leute also, die dank ihres Nomadentums der raschen Lösung, welche die Großmutter anstrebte, besonders entgegenkamen. Alle heirateten - bis auf Sinforosa, die zweite von Onkel Evaldos und Tante Racheles Töchtern. Auf dem Handbüchlein mit dem Glück verheißenden Titel Anleitung für eine junge Braut , das seit einiger Zeit auf ihrem Nachtkästchen lag, hatte sich bereits Staub angesammelt.
Außer den Eheschließungen hatte aber noch etwas anderes dafür gesorgt, dass sich die Reihen der Di Lontrones dramatisch lichteten: Im gleichen Rhythmus, in dem meine Cousinen heirateten, starben mysteriöserweise deren Eltern; einzig Onkel Teodorino und Tante Ines überlebten, außerdem die beiden Onkel, die als Mönche in Klausur lebten und - vermutlich - keine Nachkommen hatten, während Onkel Evaldo und Tante Rachele noch vor der gewünschten Verheiratung ihrer Tochter gestorben waren. Ausgerechnet
während ihrer täglichen frommen Andacht am Grabe ihrer Eltern knüpfte nun aber auch Sinforosa, »an einem strahlenden Junitag, da leichte weiße Wolkenbäusche über den Himmel segelten ….«, zarte Bande zu ihrem lang ersehnten Seelenverwandten, einem Waschmittelvertreter für Omo. Diese Begebenheit fand einige Jahre später Eingang in dessen Autobiografie Mein Leben: Ein Traum ohne Trug , die im Verlag Agamennone veröffentlicht, an Freunde und Verwandte verteilt und mit dem von der Stadt Macerata ausgelobten Förderpreis für literarische Debütanten ausgezeichnet wurde:
Zu jener Zeit pflegte ich auf meinen Reisen als Handelsvertreter stets einen kleinen Imbiss mitzunehmen. Im Sommer suchte ich einen ländlichen Friedhof auf, wo ich mittags eine Pause machte. Dort war es still, ruhig und kühl, und während ich meine Brotzeit verzehrte, kamen mir tiefe und heitere Gedanken zugeflogen. Es war genau an einem dieser heiligen Orte, dass ich sie sah … Sinforosa, am Grab ihrer geliebten Eltern kniend. Ihr sanfter Blick, ihre gefasste und sittsame Haltung nahmen mich sofort für sie ein: Zwei Monate später waren wir Mann und Frau.
Ich selbst war es, der in Vertretung des verstorbenen Brautvaters die Besitzerin jener Dessous zum Altar führte, die Gegenstand der letzten und leidenschaftlichsten meiner familienbasierten Wichsereien waren. Infolge dieser letzten, für mich so traurigen Hochzeit war ich nunmehr gezwungen, mich über die mit Brillantine und Rasierseife verschmierten und mit Haarschnippeln beschmutzten Zeitschriften des Herrenfriseurs zu beugen - denn sosehr ich mich auch bemüht hatte, es war mir nicht gelungen, in den Schlüpfern von Tante Ines, dem einzigen weiblichen Wesen, das neben der Großmutter von den sich überschneidenden
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