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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Heirats- und Sterbeepidemien verschont geblieben war, etwas Stimulierendes zu finden. Kurzum, ich arrangierte mich, was aber einen gewissen Einsatz von mir verlangte, und deshalb verließ ich das Klo heute, wie an jedem Morgen, ganz außer Atem.

    Ich rannte die Straße hinunter. Eine weiße arktische Linie trennte die Berge vom bleifarbenen Himmel - und dabei war gerade erst Oktober. Ich atmete die eisige Morgenluft ein, die mir neue Kraft einflößte, welche ich nach dieser ganzen Anstrengung auch benötigte. Ich sah auf die Uhr des Campanile und sagte mir, dass der Bus schon weg sein würde. Mit Unbehagen dachte ich an den öden Tag, der dann vor mir läge. Lieber würde ich in irgendeiner Bar herumhängen, als nach Hause zu gehen und der Großmutter zuzuhören. Doch er ist noch da: Der weiß-blaue Bus mit dem gewölbten Dach steht unter den Linden der Piazza. Davor hat sich ein Grüppchen gebildet. Ich erkenne Rinos Moppfrisur - er ist derjenige, der am meisten herumhampelt -, und mir ist alles klar. Ich weiß, warum der Bus noch nicht abgefahren ist, obwohl er das schon vor gut fünf Minuten hätte tun sollen.
    Bevor ich das Haus verlassen hatte, hatte ich wie gewöhnlich etwas aus Onkel Teodorinos Portemonnaie »entfernt« und ging jetzt durch die kleine Menge von Neugierigen, die sich vor der Bar versammelt hatten, denn während Rino unsere Rechte als auf den Pendlerbus angewiesene Schüler verteidigte, blieb noch genug Zeit, um sich einen Cappuccino und einen Buondì zu genehmigen - diesem Mini-Panettone galt immer noch meine Leidenschaft. Imma blickte vom Tresen auf, wischte aber weiter die Platte blank. »Und du streikst nicht?«, fragte sie. Wirklich komisch war, dass sie mich dann mit jenem verständnisvollen Blick anlächelte, mit dem mich im Dorf immer noch alle bedachten.
    Ich war inzwischen sechzehn und hatte mich beim Landvermesser einschreiben müssen. Um bei ihm in die Lehre gehen zu können, legte ich täglich die siebzig Kilometer lange kurvenreiche Strecke zu seinem Büro zurück, eingezwängt in einen Bus mit sechzig anderen Schülern, und genau aus letzterem Grund organisierte Rino jedes Jahr im Herbst einen Streik. Derselbe Bus spuckte uns etwa zehn Stunden später wieder am Ausgangspunkt aus, müde und ausgehungert trotz der gewaltigen und vielfältig angereicherten Pausenbrote, die die Mütter - in meinem Fall Tante Ines - liebevoll
in Zeitungspapier wickelten, dessen gedruckte Lettern sich unter Einwirkung des Fetts in eine Art arabische Schrift verwandelten. Wenn wir uns dann wie betäubt auf der Piazza wiederfanden, war die Sonne nur noch ein gespenstischer Widerschein. Der Rauch aus den Schornsteinen zitterte vor dem Bleigrau der Wolken, die Schläge der Glocken brachen sich an der eisigen Luft, und den Mädchen, die den Nachhauseweg antraten, gelang es, für Strecken von höchstens fünf Minuten eine halbe Stunde zu brauchen. Sie erzählten sich von ihren Herzbuben - irgendwelchen älteren Schülern von außerhalb, die sie kaum angeschielt hatten, aber auch von angehenden Angestellten, Laufburschen in Metzgereien, Mechanikerlehrlingen, Friseuren und Verkäufern, die sie am Busbahnhof kennengelernt hatten oder sonst irgendwo, wo es sie hin verschlagen hatte: »Er ist so süß, nur ein bisschen dünn.« »Stell dir einen Totenkopf mit Schnurrbart vor«, erläuterte die Busenfreundin den anderen. Unterdessen versteckten sie sich in irgendeiner Gasse und schminkten sich mit den Fingerspitzen, die sie mit Spucke benetzten, das Gesicht ab, machten ihre Röcke wieder etwas länger und ersetzten die Nylonstrümpfe durch züchtigere Kniestrümpfe. Meine Kumpel verweilten unterdessen in den Bars. Sie rauchten die letzte Zigarette aus dem Päckchen, spielten Karten, tranken lauwarmes Bier oder rüttelten nervös am Flipperautomaten. Ich, ich ging allein nach Hause.
    Erschöpft warf ich mich auf das Bett. Ich starrte auf die gelblichen Flecken an der morschen Decke und phantasierte über das Schriftstellerschicksal, das mich in Amerika erwartete, aber mit nachlassender Überzeugung: Würde es mir je gelingen, dorthin zu gehen? Ein Pluspunkt war immerhin, dass ich mich dank meines Pendlerdaseins vom Professor befreit hatte. Ich hatte wenig Zeit und musste lernen, obwohl ich, wenn ich mich endlich von einem anstrengenden Tag erholt hatte, nicht im Ernst daran dachte, mich meinen Lehrbüchern zu widmen - wie konnte einer wie ich überhaupt an jemanden wie den Landvermesser geraten? Im Übrigen las

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