Ferne Verwandte
ich die üblichen Romane, perfektionierte mein Englisch, spielte sonntags
in der Frühmesse Orgel und stattete immer häufiger dem Friedhof einen Besuch ab: Die Serie von Trauerfällen, von der meine Familie heimgesucht worden war, hatte eine weitere unauslöschliche Spur in mein bereits schwermütiges Wesen gegraben. Nachdem ich so oft über ihn hatte reden hören - seit ich vier Jahre alt war - und so oft über ihn geschrieben hatte - in meinen gefühlvollen Nachrufen in der Contrada soprana -, hatte ich nunmehr dem Tod ins Gesicht gesehen. Und wie ich ihm ins Gesicht gesehen hatte!
Onkel Erminio, den es von meinen acht verstorbenen Onkeln als Ersten getroffen hatte, kollabierte infolge eines Schlaganfalls praktisch in meinen Teller hinein - in einen mit Pasta und Erbsen gefüllten Teller. Es war Mai, und die frisch geernteten Früchte waren besonders grün, zart und süß. Die folgenden Monate wurden dann zu einem einzigen Albtraum: Kein Zimmer konnte ich betreten, ohne dass jemand auf mich zutaumelte, mit weit aufgerissenen Augen, bläulich blassem Gesicht, den sabbernden Mund zu einem Grinsen verzogen, aber trotzdem fest entschlossen, mich in eine letzte, grauenhafte Umarmung zu ziehen. Wenn nicht gar sie selbst es waren, die mich aufsuchten, wie im Fall von Tante Rachele, einer zentnerschweren Frau, die eines Morgens - ich war noch nicht aufgestanden - nach einem langen, schier unglaublichen Lauf durch das Haus bei mir hereinplatzte, um mich ausgerechnet auf meinem eigenen Bett zu erdrücken. Ich blieb - ich weiß nicht, wie lange - unter ihrem Gewicht eingeklemmt, und ein Rinnsal ihres kalten Schleims verstopfte mir das linke Ohr, bis es mir endlich gelang, sie von mir zu wälzen und auf den Boden zu kippen. In jenen verzweifelten Nächten, in denen es von angsterfüllten Träumen nur so wimmelte, fühlte ich beim Aufwachen, wie sich die Gespenster hinter der Tür versammelten und sich darauf vorbereiteten, mich zu zerfleischen. So flüchtete ich mich, sobald ich konnte, auf den Friedhof, aber meine Besuche hatten einen ganz anderen Grund als den von der Kirche oder von Ugo Foscolo oder den romantischen Dichtern im Allgemeinen vorgebrachten. Ich ging dorthin, um mich zu vergewissern, dass meine Onkel und Tanten hermetisch
in ihre Särge eingeschlossen waren, und weil die Familiengruft ein paar Meter unter der Erde bereits überfüllt war, prüfte ich stets, ob nicht irgendjemand die Erde bewegt hatte - alles, damit sie endlich aufhörten, mich zu verfolgen. Einiges Kopfzerbrechen bereiteten mir noch Onkel Teodorino und Tante Ines: Auch sie könnten von einem Augenblick auf den anderen dahinscheiden und auf mich draufplumpsen. Während aber die Zeit verging - die Zeit seit den Hochzeiten ihrer Töchter -, wurde klar, dass sie davongekommen waren.
Allerdings wäre es falsch zu leugnen, dass ich aus diesen traurigen Wallfahrten nicht auch eine gewisse Seelennahrung schöpfte. Sobald ich meine akribische Inspektion beendet hatte, konnte ich mich nämlich an den unendlichen Geschichten hinter den dürren Grabinschriften weiden. Da war zum Beispiel das aus Marmor gemeißelte Bildnis einer jungen Frau mit den klassischen Lilien und Affodillblüten samt Widmung eines Gatten mit gebrochenem Herzen. Und sein Grabmal direkt nebenan, mit einem Datum, das kaum einige Monate später lag: Welcher Roman könnte ähnliche Gefühle vermitteln? Dann rätselhafte Geschichten, auf zwei schlichte Zeilen verkürzt: »Geboren 5. 3. 1878, gestorben 10. 4. 1906 in Kalkutta. Der Maharadscha Samir Chatterjee zum Gedenken an seinen unersetzlichen Freund.« Wie mochte es den dorthin verschlagen haben? Und was hat einer von hier mit einem Maharadscha und gar noch mit Kalkutta zu tun? Und welches Gedicht, und sei es das großartigste, kann es mit der folgenden bescheidenen, aber aufrichtigen Hymne auf das Leben aufnehmen - wobei man die Aufrichtigkeit eines Sterbenden wohl ohnehin kaum in Zweifel ziehen kann:
Ich lebte und bewunderte
Sonne und Erde und betete sie an
Und gehe weiter auf dem ew’gen Weg des sterblichen Lebens
Ganz zu schweigen von der schlichten Schönheit der in Kontemplation versunkenen Gestalten vor den erstarrten Wellen
unserer Berge - unsere Basilicata: ein Himalaja en miniature . Graue, abgezehrte Alte stehen vor den Gräbern ihrer jung verstorbenen Kinder. Mädchen mit zerzausten Haaren und Heckenrosensträußen in der Hand knien vor den Fotos ihrer lächelnden Verlobten. Zu genuinen tableaux vivants - der
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