Ferne Verwandte
erlitten haben muss: Nicht zufällig ist sie das Lieblingsobjekt meiner Wichsereien ohne optische Vorlage - noch am Abend zuvor hatte ich mir, ihrer eingedenk, einen runtergeholt. Unsere Blicke treffen sich, und mir kommt es vor, als würde sie in meinem Inneren lesen. Dann schlägt sie die Augen nieder und poliert die Theke. Ich trinke meinen Cappuccino aus und bin schon im Begriff, meine Bücher zu nehmen und zu gehen, als sie sagt: »Ich habe dich in der Kirche gehört, an der Orgel. Du spielst wirklich gut. Wie sieht es bei dir denn mit aktueller Schlagermusik aus?«
»Pah! Ich kann praktisch alles spielen«, antworte ich frech.
Sie sieht mir wieder in die Augen. »Alles? Wirklich alles?«, fragt sie.
»Tja, ich bin ziemlich musikalisch.«
»Also, dann hätte ich einen Job für dich … Falls du überhaupt arbeiten möchtest.« Und das bei meinem Geldhunger! Über der Bar wird in ein paar Monaten ein Veranstaltungssaal eröffnet, und ich soll bei Feiern für Stimmung sorgen. »Um das Pianola kümmere ich mich. Du musst nur ein Repertoire von - sagen wir mal - ungefähr fünfzig Schlagern einstudieren: Zwanzigtausend Lire pro Abend, wie findest du das?«
Ich finde das ausgesprochen gut. Das einzige Hindernis wäre die Großmutter, aber die hat andere Sachen im Kopf. Gewiss, meine
Cousinen sind alle verheiratet, und zwar samt und sonders nach dem Beispiel von Ildina, sodass die Großmutter keine einzige Lira hatte ausgeben müssen. Leider jedoch sind in der Zwischenzeit der Reihe nach meine Onkel und Tanten gestorben, und das möglicherweise nicht zuletzt wegen der erlittenen Demütigung: Sie hatten sich für ihre Töchter etwas ganz anderes erträumt - prunkvolle Hochzeiten, Hunderte von Gästen, Geschenke und Tanzvergnügen bis tief in die Nacht hinein -, hatten sich dann aber mit mickrigen Mussheiraten abfinden müssen. Nicht zufällig sind die Einzigen, die das Massensterben überlebt haben, Onkel Teodorino und Tante Ines, die Eltern von Tea, die wenigstens ein schönes Fest mit allem Pomp genossen haben. Die Großmutter war über die Eheschließungen hocherfreut gewesen und hatte sich der Trauer verweigert - ungerührt hatte sie ihre Kinder und Schwiegerkinder zu Grabe getragen -, aber die Firma, die Premiata Olii Superfini , nein, das war etwas anderes. Natürlich hätte sie es niemals zugegeben, solange sie alle am Leben waren - und sie tat es nicht einmal nach ihrem Tod -, aber der Beitrag ihrer Söhne, allen voran Onkel Erminios, hatte sich im Laufe der Jahre als für den Betrieb unverzichtbar erwiesen. Jetzt ist die alte Dame wieder einmal allein. Außerdem ist es das Jahr der Fliege - die verfluchten Insekten fressen praktisch alle Oliven auf -, und eines unschönen Tages erscheint der Gerichtsvollzieher, um unsere Möbel zu pfänden.
Durch die großen leeren Räume zu gehen löst seltsame Gefühle aus, aber Nonnilde verzagt nicht. Sie mobilisiert einen ihrer alten Schollenknechte, der inzwischen Inhaber einer Möbelfabrik ist und uns binnen einer Woche zumindest mit dem Notwendigsten beliefert, dann macht sie sich erneut an die Arbeit und schert sich weiterhin nicht um meine Existenz - nur am Morgen, wenn ich im Klo bin, brüllt sie, dass es Zeit sei.
Das Geld wird also auch ihr zupass kommen: Wenigstens braucht sie sich dann nicht mehr wegen der Bücher, der Dauerkarte für den Bus und der paar Klamotten, die sie mir kauft, zu beschweren. Geht in Ordnung, sage ich zu Imma. Die drückt mir fest die Hand - es
mag nur eine Ahnung sein, aber mir kommt es vor, als ginge es bei unserem Pakt eigentlich um etwas ganz anderes -, und ich schaue sie an und hätte mich wohl kaum losgerissen, wenn sie mir nicht durch ein Zeichen zu verstehen gegeben hätte, dass der Bus gleich abfährt.
Vor der Bustür steht Rino in seinem kurzen Parka aus ausgeblichenem grünen Stoff, neben ihm stehen zwei andere Typen. Er fixiert mich mit demselben provozierenden Blick wie damals im Kindergarten. An jenem fernen Tag hatte ich gerade auf der niedrigen Klostermauer ein paar Ameisen zerquetscht, als er, einen Arm hinter dem Rücken, an mich herantrat und befahl: »Mach mal die Augen zu und rate, was das ist!« Nachdem ich an seinem Finger geschnuppert hatte, rief ich, auch weil wir soeben aus dem Speisesaal gekommen waren: »Velvetakäse!« Er lachte sich schier kaputt: »Velvetakäse, er hat Velvetakäse gesagt!«, und die anderen im Chor: Vel-ve-ta-kä-se, Vel-ve-ta-kä-se. Ein Glück, dass wir noch so klein waren, sonst
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