Ferne Verwandte
und ihre superkurzen Röcke, deren Bund sie auf dem Weg von zu Hause hochgezogen und umgeschlagen hatten, machten sie erwachsener - lauter Kniffe, die sie in schöneren Zeiten von ihren nordischen Freundinnen gelernt hatten. Die Jünglinge waren sogar noch früher dran als die Streberinnen. Sie besetzten den vorderen Teil des Busses und redeten über Fußball oder schwiegen verschlafen und stierten, von der Angst des Südländers überwältigt, vor sich hin. Nicht so Rino: Wenn er in den Bus stieg, fummelte auch er herum, aber er stieg selten ein, und so hatte ich freie Bahn. Seit Beginn des Jahres war mir allerdings Besseres beschieden, als gegen Concetta Campochiaros Hinterteil zu prallen: Es war mir nämlich gelungen, mich neben Renata zu setzen.
Renata Trevisan ist blond wie eine Nordländerin und kommt auch aus dem Norden; sie ist erst vor Kurzem hierhergezogen. Tatsächlich
stammt sie aus Treviso und hat gebürstete nerzfarbene Augenbrauen und blaue Augen, die tief unter den markanten Bogen glänzen. Sie ist bildhübsch und hochmütig und hört auf niemanden. Ob das daran liegt, dass sie aus dem Norden kommt und so wunderbar ist, oder daran, dass sie die Tochter des neuen Maresciallo der Carabinieri ist, der bei uns nach wie vor zu den höchsten Respektspersonen zählt, weiß ich nicht. Am Abend aber, wenn ich an ihrem Haus vorbeigehe und sie im Wind, der durch die dunklen Gassen pfeift, Debussys Ad Parnassum und Chopins Nocturnes spielen höre, denke ich, dass ihr Verhalten daher kommt, dass sie ein spiritueller Typ ist. Deshalb stehe ich an den ersten Schultagen möglichst früh auf, halte mich nur so lange wie unbedingt nötig im Klo auf und schaffe es, mich neben sie zu setzen. Ich ziehe eine Partitur von Bach oder Rollands Beethoven - Biografie hervor und unterstreiche da und dort etwas mit dem Bleistift in dem Bemühen, ihr Interesse zu wecken - sie hat mich ja schon in der Kirche an der Orgel gesehen und wird früher oder später begreifen, dass auch ich »spirituell« bin.
Eines Morgens hatte ich, während wir Seite an Seite die Staatsstraße entlangglitten und Nebelschwaden über der Landschaft waberten, plötzlich den Eindruck, dass irgendetwas unsere Seelen verband und sie über die menschlichen Schwächen ringsum erhob. Da war zuallererst der Knoblauchgeruch - die Mundhygiene war zu jener Zeit im Süden fast noch nicht verbreitet -, aber auch der Gestank nach ungewaschenen Achseln, Füßen, Schwänzen, Ärschen - um der Wahrheit die Ehre zu geben, war zu jener Zeit die Hygiene im Süden generell wenig verbreitet - und Fürzen, die allerdings überall auf der Welt von dem Rütteln ausgelöst werden, dem die Eingeweide frühmorgens im Bus ausgesetzt sind. An jenem Morgen also war es mir so vorgekommen, als hätten sich trotz alledem unsere Seelen berührt. Dann hatte ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und die denkbar banalste Frage an sie gerichtet: »Und Bach … gefällt dir Bach?« Sie würdigte mich kaum eines »Na ja« und drehte sich zum Fenster. Tatsache ist, dass sie
das Dorf und jeden, der dort wohnte, verachtete. Das hörte ich sie am nächsten Tag zu Rosaria Dazio aus Viterbo sagen, der Tochter des Amtsarztes, der Einzigen, mit der sie überhaupt ein paar Worte wechselte. Daraus schloss ich, dass sie mich mit den Primitivlingen der Gegend auf eine Stufe stellte.
Seither verspätete ich mich immer, und trotzdem hatte ich, während ich mich in den ersten Kurven gegen die beruhigenden Rundungen von Concetta Campochiaro fallen ließ, stets nur Augen für Renata.
13
Abends ging ich früh zu Bett. Davor sah ich noch mit Tante Ines und Onkel Teodorino ein bisschen fern. Die Großmutter blieb in ihrem Arbeitszimmer und befasste sich mit der Buchhaltung, bei der nach wie vor etwas nicht stimmte - hin und wieder hörten wir in einer stillen Pause, wie sie wütend eine Schublade oder eine Tür des Bücherschranks zuknallte. Dann fingen Onkel und Tante zu schnarchen an, und das Kaminfeuer verpasste ihnen, die auf den neuen, billigen Vinylsesseln saßen wie zwei im All vergreiste Astronauten auf den Schleudersitzen ihres zerstörten Raumschiffs, die rötliche Aureole einer fernen Sonne. Da ich im Programm nichts fand, was meinen romantischen Neigungen entgegenkam - die Epoche der großen Fernsehfilme wie Die Verlobten, David Copperfield oder Die Miserablen war bereits untergegangen -, zog ich mich ins Bett zurück.
Der Weg dorthin war mit komplizierten Operationen verbunden. Im ersten Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher