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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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wäre dieser Spitzname sicher an mir kleben geblieben - eine Dummheit dieser Art genügte nämlich, und schon wurde einem in jedem Nest des Südens, das etwas auf sich hält, das Leben zur Hölle gemacht. Um was es sich tatsächlich handelte, habe ich übrigens nie erfahren. Hin und wieder fällt es mir ein, und jetzt bin ich drauf und dran, ihn zu fragen, ob es vielleicht Scheiße war.
    »Es ist Streik«, erklärt er. »Transportmittelstreik«, präzisiert er. Ich werfe einen Blick in den Bus und sehe hinter der beschlagenen, mit Staub und Dreckspritzern bedeckten Fensterscheibe Renata sitzen, gedankenverloren wie eine nordische Prinzessin, die ein böser Zauberer in einen Eissarg gebannt hat. Ich sehe die beiden Schwestern Campochiaro - Incoronata und Concetta - im Bus stehen, die die Szene durch ein offenes Fenster über der stilisierten Aufschrift CalcianTour genüsslich beobachten. Sie schütteln ihre Mähnen, die ebenso rabenschwarz sind wie die ihrer Mutter Torrediluna, und lachen mit ihren scharlachrot angemalten Lippen, und um nichts auf der Welt würde ich sie ohne mich abfahren lassen.
    »Aber er ist doch voll«, sage ich.

    »Eben!«, grinst Rino. »Das Problem ist, dass er zu voll ist«, und packt mich am Schal.
    »Hängt davon ab, wie man die Sache sieht«, antworte ich, löse mich mit einem Ruck aus seinem Griff und springe die Stufen hinauf. Die Püffe, die er mir versetzt, ignoriere ich einfach. Dann gehen die Türen zu, und ich sehe, wie er sich entfernt, die Faust geballt. Zusammen mit den beiden anderen Schwachköpfen ruft er: »Streik-bre-cher, Streik-bre-cher!«, und mir ist nun klar, dass er ein Scheißkerl ist, weil nur Scheißkerle gegen den einzigen Lichtblick, den der Tag für einen armen, auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesenen Schüler bereithält, protestieren können.
    Unterdessen stellte ich fest, dass ich mich im Gedränge ausgerechnet gegen den Hintern einer der Campochiaro-Mädchen - Concetta in diesem Fall - drückte und nur abzuwarten brauchte, bis die ersten Haarnadelkurven das Übrige erledigten. Dass es sich um einen erbärmlichen Trick handelte, war mir bewusst, aber immerhin befanden wir uns in einer Wirtschaftskrise - der Krise von 1969 -, die über Italien hereinbrach und deren Auswirkungen wir, im Gegensatz zu denen des Booms, unverzüglich zu spüren bekamen. Im Sommer blieb die Piazza leer, das fröhliche Flanieren der Turist -Mädchen war nur noch eine schöne Erinnerung, und die Tatsache, dass die saisonale Sprachvermischung ausgefallen war, beschleunigte letztlich die Wiederherstellung des alten Systems der Geschlechtertrennung - Männer auf der einen Seite, Frauen auf der anderen. So bestätigte sich auch das Marx’sche Theorem, wonach »jeder Struktur ein Überbau entspricht«, was ich allerdings nur aus Cafieros Compendio del Capitale wusste - Marx selbst war mir zu langatmig für das Minimum an politischen Kenntnissen, mit denen auch ich mich auszustatten beschlossen hatte, weil ich mit der Zeit gehen wollte, die eine Zeit großartiger ideologischer Angebote war.
    Zum Wind der Restauration, der im Dorf wehte, kam noch hinzu, dass ich inzwischen Vermessungstechnik studierte. Das war natürlich Nonnildes Idee gewesen. Die Gefühlsanwandlungen der
Menschen waren ihr wohlvertraut, und ohne jemals eine Abhandlung über Psychologie gelesen zu haben, war ihr klar, dass es für die »Melancholie des Emigranten«, dieses typische Verlustsyndrom, nur ein einziges Heilmittel gibt: Die von ihrer Heimat Getrennten wünschten sich nichts sehnlicher, als in ebendiese zurückzukehren. In diesem Fall würden sie Häuser benötigen, und wir, die wir Land besaßen, würden sie ihnen bauen. Sie zu planen wäre dann meine Aufgabe. So kam es, dass ich mich in einer Schule mit absoluter männlicher Dominanz wiederfand und der Omnibus die einzige Gelegenheit bot, mit ihnen, den Frauen, »in Berührung zu kommen«.
    Jeden Morgen gab es eine reiche Auswahl: Die Streberinnen, bis auf Renata allesamt behaarte Schreckschrauben, kamen früh, um ihre Stammplätze zu besetzen, während der enge Gang sich später mit den Vamps - wie man damals sagte - füllte. Neben den unübertrefflichen Campochiaro-Schwestern waren dies: Pina Restucci di Marcantonio, Amalia Fondi, die Tochter von Bau, dem Tierarzt, und Rosanna Terso, die Schwester von Maciste, dem Bäcker: Sie verspäteten sich jeden Tag, weil sie sich heimlich schminkten. Auf ihren unvermeidlichen Plateausohlen wirkten sie größer,

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