Ferne Verwandte
drehte ich den alten Knebelschalter nach rechts, ging weiter, um auch das Licht im nächsten Zimmer einzuschalten - die schwachen Glühbirnen vermochten die Räume kaum zu erhellen -, ging dann wieder zurück ins erste Zimmer, wo ich das Licht ausschaltete, lief im Dunkeln ängstlich in das beleuchtete und so weiter. Zu viele Sterbende hatten mich angesprungen in diesen Räumen, die nun mit den Spuren, welche die gepfändeten Bilder und Möbel - makabren Leichentüchern gleich - an den Wänden hinterlassen haben, an das Interieur eines Spukhauses gemahnten. Selbst die aus dem 18. Jahrhundert stammende Geburt Jesu - der
letzte uns verbliebene Sakralgegenstand aus der Sankt-Barbara-Kirche (für die Pfandgläubiger zu heilig), der zwischen zwei kleine, in die Wand eingelassene Vitrinen eingezwängt war (für die Pfandgläubiger zu unzugänglich) - konnte diesem Eindruck nicht entgegenwirken. Die düstere Grundierung des Gemäldes wurde nur von einem fahlen Lichtstrahl durchschnitten, der auf die Wiege des Jesuskindes fiel und wie ein Peitschenhieb auf dem bläulich rot verfärbten Gesicht des Joseph und den traurigen Augen der Madonna landete, und so erinnerte die Szene eher an die Leidensgeschichte Christi als an seine Geburt.
Sobald ich im Bett lag, hatte ich die Auswahl zwischen dem Radio, den Büchern, die meine Cousinen infolge ihrer überstürzten Eheschließungen hier vergessen hatten, und dem Englischkurs für Fortgeschrittene, den ich in meiner neuen Schule hatte mitgehen lassen. Doch früher oder später verfolgte mich immer wieder Immas Bild - wie sie mich an jenem Vormittag angeschaut hatte -, und jedes Mal holte ich mir sofort einen runter. An diesem Tag war es das zweite, dritte oder sogar schon das vierte Mal. Danach dachte ich über mein Leben nach. Es kam mir so leer vor, und zwar nicht nur, weil ich solchen Praktiken frönte; hauptsächlich war es die Einsamkeit, die mich so leer machte. Ich erinnerte mich an die Zeit mit Pit und verspürte dieselbe Wehmut, mit der vielleicht ein Sohn an die letzten mit seinem verstorbenen Vater verbrachten Ferien zurückdenkt. Tot aber war Pit mit Sicherheit nicht: Aus seinen letzten Briefen an Vitina ging hervor, dass er sich in London aufhielt - wo sonst hätte sich der große Pit aufhalten sollen? Alles, was es an Neuem und Begehrenswertem gab, von der Musik über die Mode bis hin zu den anderen, faszinierenden Dingen - das Lebensgefühl des Beat , kurzum, kondensiert in den Langspielplatten, die ich mir von einem zahlungskräftigen Mitschüler auslieh, und den Covers voller Typen mit verrückten Frisuren und noch verrückteren Klamotten -, all das kam aus London. Und wenn sie im Fernsehen irgendein Bild von dort zeigten, sah ich ganz genau hin, denn ich war mir sicher, früher oder später einmal den von Mädchen
umringten Normannen auftauchen zu sehen, wie er in einer qualmigen Kneipe Saxofon spielte oder barfuß im Hyde Park spazieren ging. Erst jetzt begriff ich, dass ich nicht irgendeinem schrägen Vogel, sondern einem Beatnik über den Weg gelaufen war, einem der ersten, wenn man bedenkt, zu welchem Zeitpunkt unsere Begegnung stattgefunden hatte. So jämmerlich war mein derzeitiges Leben, dass ich selbst den mit dem Professor verbrachten Jahren nachtrauerte. Damals hatte ich so viele Dinge zu erledigen gehabt, und die Zeit, die mich von meinem Aufbruch nach Amerika trennte, war nur so dahingeflogen.
Jetzt dagegen kamen mir die Tage endlos vor, die Erfüllung meiner großen Hoffnungen schien in weite Ferne gerückt, und die Bangigkeit warf mich früher aus dem Bett als nötig, selbst dann, wenn es überhaupt nicht nötig gewesen wäre, nämlich an den Sonntagen. Wenn ich nicht von selbst aufwachte, weckten mich die Glocken oder die Blaskapelle, die mich immerhin fröhlich stimmte. Eines Tages, als ich diese jungen Burschen in ihren himmelblauen Uniformen betrachtete, die voller Hingabe in ihre glänzenden Instrumente bliesen, sagte ich mir, dass ich auch in der Kapelle mitspielen wollte - dass es eine Gelegenheit sein könnte, meine Isolation zu überwinden. Ich ging also zum Heimatverein, und der Kapellmeister Girolamo Fusacchio, der mich bereits als Organisten schätzte, empfing mich mit den gebührenden Ehren. Ich brauchte mich nur auf ein Instrument festzulegen, und nach vierzehn Tagen nahm ich meinen Platz ein und stimmte das Sax, für das ich mich nach Pits Vorbild entschieden hatte.
Es war ein altes Saxofon aus polnischer Produktion mit abgegriffener
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