Ferne Verwandte
unserem unterscheidet, und wenn sie von der Arbeit zurückfahren, eingemummelt in einem kalten Zug sitzen oder im Auto vor einer nebelumhüllten Ampel stehen, wird ihnen genau der heutige Abend einfallen. Sie werden lächeln über unsere Flegelhaftigkeit, über die Art, wie wir uns kleiden, über unsere wenigen Lire, aber es wird ihnen warm ums Herz werden, und wenn sie die Haustür öffnen und Frau und Kinder sie zärtlich, aber mit einem fremdartigen Akzent begrüßen, wird ihnen klar sein, dass dieses hier ihr wahres Leben war und dass sie es niemals vergessen werden. Ich sehe den Schweizer an und könnte wetten, dass sogar er sich über das Drama der Emigration den Kopf zerbricht, dass selbst ihm es lieber wäre, wenn Toblerone hier eine Filiale hätte und nicht in Zürich. Aber ich sehe, wie seine Augen im Dunkeln blitzen und sein Mund sich zu einem halben Lächeln verzieht, als er jetzt sagt: »Scheißnest!«, und trotz meiner Überlegungen von gerade eben seufze ich zustimmend, als er nachschiebt: »Oder vielleicht nicht?« - genau einen Lidschlag bevor sie vorn zu singen anfangen: Paese mio che stai sulla collina, disteso come un vecchio addormenta-a-to, Geliebtes Heimatdorf, das du wie ein schlafender Alter auf dem Hügel liegst.
»Großartig, dieser Feliciano«, sagt am Ende Benedetto, wie Apaches richtiger Name lautet, legt den vierten Gang ein und geht mit beschleunigtem Tempo in die Haarnadelkurven. Am Stoppschild der Staatsstraße halten wir den Atem an - und fragen uns, dank welchem geheimnisvollen Mechanismus ein Verbrennungsmotor
diese halbe Tonne Stahl - beziehungsweise Blech, da es sich ja um einen Fiat handelt - mit dem zusätzlichen Gewicht von vier jungen Kerlen aus dem Süden, die allerdings noch nicht zu Abend gegessen haben, wieder in Bewegung setzen soll, und das infolge eines einfachen Pedaltritts. Vielleicht fragt sich nur der Schweizer das nicht, weil er als pragmatisch orientierter Mensch wissen müsste, wie diese Kiste funktioniert. Bald aber zerreißt das Dröhnen des Fahrzeugs erneut die Stille und befreit uns vom Rätsel der Mechanik. Noch ungefähr zehn Minuten in der Finsternis des offenen Landes, dann hellen die Laternen am Straßenrand Gesichter und Stimmung auf.
Es ist der Ort, den ich als Kind mit Genuario besucht habe. Wir fahren unter den großen Platanen und an den Häusern mit den Dachgauben vorbei. Wir lassen die Bar hinter uns, in der ich damals mein Eis gegessen habe, und stoppen vor dem roten Neonschild, auf dem »Pizza Vera« steht, und es ist, als wären wir in einer richtigen Stadt - will sagen, dass es hier viele echte Städter gibt: junge Leute und vor allem Mädchen. Sobald wir drinnen sitzen, verpufft allerdings unsere Begeisterung. Wir kennen niemanden, und die wenigen, die wir kennen, hauptsächlich Schulkameraden, grüßen uns kaum. Immerhin gibt es etwas zum Schauen - wie gesagt, sind viele weibliche Wesen hier -, und das ist schon etwas für Leute, die es gewohnt sind, zu dieser Tageszeit höchstens noch dem Dorftrottel zu begegnen. Hin und wieder werfen sie einen Blick herüber, von dem man nicht genau weiß, ob er neugierig oder angewidert ist - für uns ist er schlichtweg mysteriös: wer weiß, vielleicht? Jedenfalls kommt die Kellnerin, und ich bestelle etwas zu trinken. »Und die wahre Pizza , die isst du nicht?«, fragt Apache.
Ich erkläre ihm, dass ich nicht über die erforderlichen Mittel verfüge.
»Das ist die Sache von Swiss, deswegen nehmen wir ihn doch mit, oder?«, sagt Tarcisio, der nicht einmal Geld für ein Bier hat.
Der Schweizer schüttelt resigniert den Kopf. Seit wir eingetreten sind, hat selbst er, der internationalste von uns, seine Überheblichkeit
verloren und läuft, als er sich etwas bestellt, sogar rot an. Zwei Stunden, und wir sitzen wieder im Fiat 124 und analysieren untröstlich die Gründe unseres Misserfolgs. Apache ist der Einzige, der versucht hat, ein Gespräch anzuknüpfen, und er fühlt sich jetzt berechtigt, uns zu ermuntern, obwohl ihn der vordere Tisch - vorwiegend Frauen - kaum zur Kenntnis genommen hat. »Haltung, Haltung. Wichtig ist, dass man Haltung bewahrt«, sagt er irgendwann mit Nachdruck. »Habt ihr gesehen, wie sie zurechtgemacht waren?« - im Vergleich zu seiner und Tarcisios Aufmachung, vermute ich mal, denn Emmental und ich sind absolut unauffällig. »Man muss ihnen zu verstehen geben, mit wem sie es zu tun haben.«
Ich habe das Gefühl, dass sie das sehr wohl verstanden haben und dass genau hier
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