Ferne Verwandte
das Problem liegt. Zum Beispiel wirken wir am Sonntag auf unserer Piazza alle mehr oder weniger gleich, bis auf Details, die so minimal sind, dass man sie kaum bestimmen kann: Körperhaltungen, Teint, Gesichtszüge oder Timbre der Stimme, wer könnte es wirklich sagen? Und dennoch erkennen sich die Kinder vom Dorf untereinander sofort - sie sind etwas anderes, und sie bleiben unter sich. Für die Gäste der Pizza Vera müssen wir also das sein, was für uns die vom Land sind - haben wir es hier mit den ersten Symptomen des Dörflerkomplexes zu tun? Derlei Gedanken bewegen mich unter der großen Eiche, wo wir für eine Pinkelpause gestoppt haben. Und vielleicht, weil ich den anderen meine Schlüsse nicht darlege, werden wir noch viele Nächte dort stehen bleiben, vollgelaufen mit Bier, bevor wir nach Hause zurückkehren, enttäuscht, aber stets mit der Hoffnung, dass es das nächste Mal besser klappt.
In der Zwischenzeit reichen Apache und Tarcisio ihre Schallplatten, ihre alternativen Zeitschriften und dieses oder jenes Buch - Kerouac, Hesse, Ginsbergs Jukebox Elegien - an mich weiter und eröffnen mir so den Zugang zur Jugendkultur. Der Schweizer dagegen versorgt mich mit Zigaretten und Pornoheften. So entdecke ich, was zwischen Männern und Frauen - oft zwischen vielen
Männern und vielen Frauen - passieren kann, Sachen, die ich mir nicht im Entferntesten hätte vorstellen können. Oggi ist passé, und am Morgen treffe ich pünktlich an der Bushaltestelle ein. Vor allem fühle ich mich weniger allein. Endlich habe ich Freunde.
Als wir eines Abends zur Abwechslung einmal in der Vera Pizza sind, wie wir das Lokal inzwischen nennen, und darauf warten, dass man sie uns serviert, die Pizza, kommt eine kleine Gruppe Mädchen mit einem Typ herein. Der trägt ockerfarbenen Samt, ein Tuch um den Hals und hat einen armeegrünen Brotbeutel dabei. Apache und Tarcisio hampeln herum, um ihn zu begrüßen - er ist genau der Typ, der zu ihren Bekannten gehören könnte -, und er grüßt herzlich zurück, blickt sich aber um, bevor er an den Tisch neben uns geht, auch wenn er am Ende will, dass wir uns zu ihnen setzen. Fausto geht auch aufs Tasso, die Mädchen ebenfalls, und das merkt man: Auf ihre Weise sind sie zurückhaltend. Wie sich das gehört, macht Benedetto uns miteinander bekannt, und ich muss sagen, er hat Phantasie. Über mich erzählt er, dass ich eine Art poète maudit sei - wohl wegen meiner Nekrologe in der Contrada soprana - und darüber hinaus ein esoterischer Musiker. Über den Schweizer sagt er natürlich, dass er Schweizer ist, was hilft, dessen beharrliches Schweigen zu erklären.
Die Mädchen sind fröhlich, neugierig und offenherzig. Sie lachen über unsere Witze, auch wenn wir - genau besehen - gar keine machen. »Die hätten aus Zürich kommen können«, sollte Toblerone ein paar Stunden später feststellen, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hat. Auch Fausto amüsiert sich. Er hat die hervorstehenden Wangenknochen eines Asketen und ein mystisches Bärtchen, und so wundert es mich nicht, dass er ganz ergriffen zuhört, als ich ihm die Harmonie der Sphären erläutere. Kurzum, die Sache gewinnt an Niveau, und als sich der Abend seinem Ende zuneigt, kann Apache die ganze Gesellschaft »in die Berge« einladen, ja, es wird bereits für den nächsten Tag ein Treffen in Tarcisios »Villa« vereinbart - dem einzigen Ort, wo man seine Ruhe hat und einem nicht dauernd die Eltern im Weg sind.
Es ist tiefe Nacht, und die Scheinwerfer malen helle Dreiecke auf die Straße. Wir haben an der üblichen Stelle angehalten, und über dem Dampf unserer jugendlichen Strahlen streiten wir uns um die beiden, für die es sich lohnt, während aus den offenen Wagentüren ein langsames Gitarrensolo über das Tal schwebt. Vor allem Mara hat uns das Herz geraubt, doch der Schweizer meldet Vorrechte an.
»Aber du hast doch kein einziges Wort herausgebracht!«
»Und wer hat die Rechnung bezahlt? Mara steht mir zu. Geht mir bloß nicht auf den Sack!«
»Schon gut, schon gut, falls du bei ihr landen kannst … Die Hauptsache ist, dass wir uns mit Fausto angefreundet haben«, beschwichtigt ihn Apache.
»Verdammt, was für’n Arschloch«, sagt der andere mit der hämischsten Lache, deren er fähig ist.
Benedetto bedauert ihn: »Das zeigt nur, wo dein Problem liegt, Emmental. Fausto ist der Mann, den wir brauchen. Er ist der Sohn von Rodolfo Calciano. Der Name sagt dir nichts? Dabei fährst du jeden Tag in einem Bus namens
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