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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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die Schweiz vergessen kann«, sagt der Schweizer.
    »Mannomann! Der denkt sogar beim Vögeln noch an seine Schweiz. Hast du wenigstens Coca-Cola gekauft?«
    Hat er. Um dem völligen Fehlen psychotroper Substanzen entgegenzusteuern, wirft Tarcisio gemäß dem, was er aus Fernsehen und Skandalpresse gelernt hat, ein halbes Dutzend Aspirin hinein. »Ob das reicht?«, fragt er verunsichert und leert gleich die ganze Packung aus.
    Jetzt waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Apache ließ Stand Up von Jethro Tull erklingen, und wir streckten uns auf den
Matratzen aus und warteten. Bis jetzt waren uns die schamlosesten erotischen Phantasien durch den Kopf gegeistert, aber nun, da der entscheidende Augenblick näher rückte, waren wir genauso bleich, angespannt und verängstigt wie vor einem Examen. Sicher, am Abend zuvor hatten wir zusammen mit unseren künftigen Gespielinnen gelacht und herumgeblödelt, aber wie würden wir dieses Klima wiederherstellen? Worüber würden wir reden? Und was würden wir vor allem machen müssen, um zu dem anderen überzugehen … wenn es überhaupt dazu kam, zu dem anderen. Apache versuchte, eine Strategie auszuarbeiten, aber es war klar, dass er als Erster im Dunkeln tappen würde. Keiner von uns war jemals wirklich mit einem Mädchen zusammen gewesen, und diese hier kannten wir ja kaum. Inzwischen fing Jethro Tull zum dritten Mal von vorne an. Wir hätten die Platte wechseln können, aber Apache wollte den Überraschungscharakter seiner Steigerung nicht zunichtemachen - nur dass die Mädchen nicht kamen. Wir beschlossen, abwechselnd Wache zu schieben.
    Als Ersten trifft es natürlich mich. Ich bleibe ungefähr eine Stunde draußen und halte das Gewirr der Gässchen im Auge - nein, das Meer sehe ich nicht, seit damals mit Pit ist es mir nicht mehr zu Gesicht gekommen, und ich sehe auch kein Auto zu uns heraufkriechen -, und weil natürlich keiner kommt, um mich abzulösen, kehre ich über den überwucherten kleinen Pfad zurück, der mit dem leuchtenden Gelb abgefallener Blätter gesprenkelt ist. Von einem Baum pflücke ich einen goldpockigen roten Apfel, der denen auf Onkel Arcangelos Drucken von John Everett Millais ähnelt, und während ich hineinbeiße und auf die drei Zypressen schaue, die sich an ein niedriges Mäuerchen lehnen, und auf die Berge, die sich gegen das milde Abendlicht abzeichnen, dringen die Klänge von In Search of the Lost Chord an mein Ohr. Das ist das zweite Album der Moody Blues, die nicht nur wegen dieser plumpen Anleihe bei Proust eine der schlechtesten Rockgruppen der Geschichte sind, berühmt für die Einführung des Mellotrons, das ein ganzes Streichorchester nachzuahmen imstande ist, und den umwerfenden Kitsch
ihrer jugendstilartig-psychedelischen Cover, die nur noch von ihren Konterfeis übertroffen werden: fünf bärtige, toupierte Irre mit gewaltigen Koteletten und nabelfreien Pullovern. Und doch, wie magisch klangen sie in meinen Ohren! Vielleicht hatten sie sich in irgendeinem nebeligen englischen Hafen eingeschifft - mit diesen Gesichtern bestenfalls als Schiffsjungen -, hatten sich auf die Reise zum Ursprung der Welt begeben und dort die geheimnisvollen Melodien ihrer Musik geklaut - Dark as a tomb!, shadows appear from nowhere, great long arms reach upward into the gloom, and sinister coiled shapes lurk in every corner . Und obwohl ich kurze Haare hatte und das schwarze Kassengestell auf der Nase trug, dazu eine kastanienbraune, von Onkel Evaldo geerbte alte Jacke und ausgebeulte Hosen, fühlte ich mich, als ich die von grauen Sumpfbinsen umgebene Hütte betrat, bei den Klängen der ätherisch zarten Stimmchen über dem Klangteppich von Sitar, Cembalo und Elektrogeigen wie einer jener freien und bunten jungen Leute in London, die ein ganz eigenes, intensives Leben führten und die ich ein paar Sekunden lang im Fernsehen gesehen oder aufmerksam in den Zeitungen studiert hatte: Kurzum, auch ich war ein Beatnik geworden, mit vielen Freunden, die ebenfalls Beatniks waren. In dieser versöhnlichen Geistesverfassung stieg ich die steile Holztreppe hoch. Der Schein der Kerzen und der Rauch der Räucherstäbchen waberten in der Dunkelheit, und meine Freunde waren wirklich niedergedrückt. Von Hochstimmung keine Spur.
    Sternhagelvoll sind sie, haben alles ausgetrunken und aufgegessen und wälzen sich jetzt herum, sehen mich fragend an. Ich schüttle traurig den Kopf. Jetzt ist allen klar, dass sie allein bleiben und die Mädchen niemals in diese trostlose

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