Ferne Verwandte
Ödnis kommen würden. Mit Orientierungsproblemen hat das nichts zu tun: Fausto wäre in seiner Eigenschaft als Sohn des Signor CalcianTour sozusagen genetisch vorprogrammiert, noch ganz andere und viel kompliziertere Routen zu meistern. Nie würden sich also die weichen eleganten Körper quasistädtischer Gymnasiastinnen mit den unseren, die armen fahrenden Schülern gehören, vereinigen. Wir
hatten uns nur Illusionen gemacht, weil wir so sehr darauf gehofft hatten. Einen Augenblick lang herrscht Schweigen - ein Schwebezustand, wie man so schön sagt. Eigentlich handelt es sich aber nur um die Pause zwischen einer Schallplatte und der nächsten, wenn der automatische Arm knackend auf die Platte fällt. Dann setzen Trommeln ein, und wir tanzen so euphorisch dazu, als wären wir plötzlich von einem enormen Druck befreit. Im Grunde hat keiner Lust, sich der Situation wirklich zu stellen. Der Schweizer versucht, uns zu stoppen, aber wir reißen auch ihn mit. Ja, es dauert nicht lang, und er führt sich am wildesten auf, wirbelt Flaschen, Stühle, Möbel durch die Luft und ist wie vom Teufel besessen. Am Ende lassen wir uns erschöpft auf die Matratzen fallen, wo wir wer weiß was für Akte hätten vollziehen sollen - aber wir sind so jung, und das Leben wartet auf uns.
Es lässt uns nicht lange warten. Schon am folgenden Tag erfahren wir, dass Fausto an allem schuld war, Faustos Mirafiori, genauer gesagt - er hatte sich einfach nicht in Bewegung setzen wollen -, und dass Fausto uns noch am selben Abend bei sich zu Hause erwarte, zu einer Party, die seine Schwester Sonia schmeiße. Der große Moment schien also unmittelbar bevorzustehen.
»Achtet bitte auf die Klamotten, wir müssen denen schwer imponieren, wir müssen ihnen … Dieses Mal klappt es. Ich spüre es«, sagt Apache hoffnungsvoll. Um acht treffen wir uns wieder an der Piazza, er in einem seiner Anzüge aus Damhirschleder, Tarcisio mit einer schwarzen Binde über dem rechten Auge, darüber wie Joyce auf einem berühmten Foto die Lenin-Kappe, und ich, der ich geplündert habe, was von Großvater Carlos Garderobe übrig ist, mit einem weiten Militärmantel, kragenlosem Seidenhemd und als Tüpfelchen auf dem i Tennisschuhe, für die ich allerdings mit eiskalten Füßen büßen muss. Der Einzige, der aus dem Rahmen fällt, ist der Schweizer mit seinem blauen Blazer und der gebügelten Hose.
»Mensch, Schweizer, du kommst ja daher wie ein Schweizer Bankier, sogar mit Goldknöpfen. Das personifizierte Arschloch«, verspottet ihn Apache.
Gedemütigt steckt der Schweizer das weg.
»Lass uns mal machen … Also, erst mal weg mit den Knöpfen!«
»Was machst du denn da? Scheiße, jetzt hast du mir mein Kaschimìrsakko zerrissen.«
»Wenn du sie nachher wieder annähst, sieht man es nicht, dafür gibst du jetzt einen großartigen Dandy ab«, ergänze ich.
»Aber dieser Dend und Di hat mich zweihunderttausend Lire gekostet!«
»Verzapf doch keinen solchen Unsinn, Schweizer«, erwidere ich ungläubig.
»Ja, weil du mit deinem Dend und Di nicht mal weißt, was Kaschimìr überhaupt ist.«
»Zuerst einmal: Es heißt Kàschmir, und das ist eine Gegend in Nordindien …«
»Quatsch! Das ist Wolle aus Ziegenhaar. Die weichste, die wo’s gibt, und die kostet eben’n Vermögen, du Ignorant.«
»Bravo, Swiss, wenn man da dran fühlt, merken alle Mädchen, die sich an dir reiben, was für ein toller Ziegenbock du bist. Weg auch mit der Krawatte! Bind dir lieber dieses Tuch um den Hals.«
»Nein, Apache, auf gar keinen Fall! Das ist mir zu rot. Wenn mich ein Polizist sieht, hält er mich für einen Kommunisten, und dann ist es Sense mit dem Visum.«
»Okay, das heißt, dass wir dir kein Visum geben. Du bleibst zu Hause. Wir können uns ja nicht wegen einem wie dir die Chancen vermasseln, ob du nun kapierst, wie die Welt sich dreht, oder nicht. Pass dich doch endlich den Zeiten an, Mensch!«
Am Ende bindet der Schweizer sich das Halstuch um.
»Jetzt schaust du wirklich wie ein richtiger Rebell aus«, sagt Apache bestimmt. Aber es sollte nicht viel nützen, im Gegenteil.
Faustos Wohnung ist erwartungsgemäß voller Leute, in diesem Fall Mädchen. Sie tanzen, und das Licht ist gedämpft, aber die Musik entspricht nicht gerade unserem Geschmack. Andererseits entsprechen auch wir nicht dem Geschmack der Mädchen. Sie schauen
uns zwar neugierig an, schmiegen sich dann aber kichernd an ihre Partner, von denen sie sich auch knutschen lassen, und die sind alle mehr
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