Ferne Verwandte
oder weniger so aufgeputzt wie vorhin der Schweizer. »Von wegen Rebell!«, sagt der zu Recht verbittert.
»Ich hab das Gefühl, dass wir zu avantgardistisch sind«, gesteht Tarcisio ihm zu, als wir uns nach einer Reihe erfolgloser Annäherungsversuche mit unseren JB-Gläsern auf einem Sofa wiederfinden und zusehen, wie die anderen sich vergnügen.
Der Einzige, der uns seiner Aufmerksamkeit würdigt, ist Fausto. Er kommt auf uns zu und sagt: »Was will man machen? Die stehen eben mehr auf Baglioni. In Bologna ist das freilich anders gewesen, da hat es nur so gewimmelt von Leuten wie euch. Sonia, meine Schwester, hätte euch gefallen. Die ist total ausgeflippt.« - Aha! - »Gestern hat sie die Party organisiert, und heute komme ich aus der Schule und finde eine Nachricht von ihr vor: Sie ist abgehauen, will in eine Kommune in Amsterdam. Tja, wenn mein Alter das erfährt, dann ist die Hölle los. Und das Schlimmste wird sein, dass sie getrampt ist. Die Tochter des Besitzers eines der größten Busunternehmen im Süden und fährt per Anhalter! Direkt ein Grund, sie zu enterben«, sagt er mit besoffener Lache.
Trotz allem ist und bleibt Faustos Wohnung ein attraktiver Treffpunkt. Schöne Aussicht, direkt am Stadtpark gelegen, geräumig und mit allen erdenklichen Schikanen ausgestattet: eine riesige amerikanische Küche mit überquellendem Kühlschrank, ein Fernseher Marke Brionvega sowie eine HiFi-Anlage von McIntosh. Außerdem gehen trotz Sonias Flucht ins Ausland jede Menge Weiber ein und aus. Wir werden also Stammgäste und schließen natürlich Freundschaften. Nach den ersten argwöhnischen Momenten setzen sich außer Mara und Tiziana auch noch die anderen Mädchen in unsere Nähe. Während wir Faustos Tees mit Orangen-, Vanille- oder Rosenblätteraroma trinken - für uns, die wir nur ATI-Tee Neue Ernte kannten, der Inbegriff des Erlesenen -, hören sie sich zusammen mit den Platten, die Benedetto jeden Abend mitbringt, auch unser Geschwätz über die allerneuesten Neuigkeiten an - Studentenrevolte,
Popveranstaltungen, Drogen, freie Liebe. Und dabei blicken sie gedankenverloren drein.
Doch dann kamen ihre Jungs, die Normalen.
Während wir die Abende damit verbrachten, uns mit den Mädchen zu unterhalten, brauchten diese Neuankömmlinge sie nur anzuschauen, und schon standen sie auf und folgten ihnen. Und wenn wir die Mädchen, die völlig in ihren Bann geschlagen waren, davongehen sahen, fragten wir uns, über welch geheimnisvolle Kräfte diese Typen wohl verfügten. Wir nahmen sie kritisch unter die Lupe, aber es gab wirklich nichts, was wir von ihnen hätten lernen können. Selten waren sie hübsch oder auch nur interessant. Meist handelte es sich eher um gewöhnliche Jungs, die vielleicht sogar jünger waren als wir, wenn auch mit diesem gewissen Etwas im Blick. Sie besaßen das »Fluidum« - so nannten wir es. Obwohl die Mädchen sich noch einmal nach uns umdrehten, waren sie ihnen doch hörig, folgten ihnen in die Schlafzimmer der Wohnung oder in die Autos, die unten am Park abgestellt waren, und wenn sie, fast immer ohne ihre Begleiter, zurückkamen, schienen sie nicht mehr dieselben zu sein. Sie wirkten distanziert, anders. Für uns waren sie plötzlich das, was sie waren: Frauen, während wir immer noch Jungs waren. Bis sich die Dinge schlagartig änderten. Es passierte, ohne dass wir es erwartet hätten - ja, wir hatten sogar versucht, es mit allen Mitteln zu verhindern.
14
Alles begann mit einem Plakat in Frakturschrift, das mindestens einen Monat vor dem Ereignis an prominenter Stelle in Schulen, Bars und Treffpunkten aushing: Im Rahmen des MKπ100-Festes des Tasso, des einzigen humanistischen Gymnasiums und somit des exklusivsten Instituts weit und breit, würden in diesem Jahr die New Trolls auftreten. Die Nachricht klang sensationell für die gesamte jugendliche Bevölkerung der Umgebung, aber ganz bestimmt nicht für uns, die wir an andere Größen des angloamerikanischen Rock gewöhnt waren und die Gruppe - so nannten sie sich damals - für wenig mehr als ein auf Sanremo begrenztes Phänomen hielten. Sogar in unserem Autobus armer pendelnder Schüler hörte man nichts anderes als das Echo dieses magischen Namens - natürlich in der örtlichen Aussprache: Njù Droll .
Er war in aller Munde - im Munde der Jungs, die sonst nur über Fußball redeten oder, von der Bangigkeit des Südländers niedergedrückt, überhaupt nichts sagten, aber vor allem im Munde der begeisterten Mädchen, der
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