Ferne Verwandte
uns wie berauscht im Schnee und lachten über die Mädchen, die sich verschenkt hatten, über ihre Liebesworte und die Küsse, die wir ihnen geraubt hatten - jeder fühlte, wie ihm heimlich das Herz aufging bei der Erinnerung, aber mehr noch wegen der Verheißungen für die Zukunft.
Im Bus machten die Vamps uns jetzt schöne Augen - nur Renata nicht: Über einen Monat lang wartete ich jeden Morgen vergeblich auf sie, denn ihr Festtagskleidchen war so dünn gewesen, dass sie sich eine Lungenentzündung geholt hatte -, aber jetzt waren wir es, die ihnen die Quasistädterinnen vorzogen. Freizügiger als die mit uns pendelnden Begleiterinnen, hatten Faustos Freundinnen ihre Begeisterung für die normalen Jungs abgeschüttelt und zeigten sich mehr als bereit, uns in die freudigen Geheimnisse der Sexualität einzuweihen. Mara hatte sich bereits mit Apache abgegeben, der uns danach alles in sämtlichen Einzelheiten schilderte, und nachdem ich meine Enttäuschung über ihren Verrat verarbeitet hatte - war nicht ich es, der Clementi wie ein Ei dem anderen glich? -, war ich im Begriff, mich mit einer gewissen Camilla einzulassen. Obwohl mein Herz immer noch für Renata schlug - nach wie vor blieb ich unter ihrem Balkon stehen in der Hoffnung, sie hinter den Vorhängen zu sehen oder wenigstens den Klang ihres Klaviers zu hören -, schaffte ich es nicht lange, die phänomenale Oberweite besagter Camilla zu ignorieren. Genau an dem Abend jedoch, der sich als der entscheidende anbot, nahm alles eine andere Wendung.
Schon wegen der Flucht seiner Tochter Sonia stocksauer und von den Nachbarn über das informiert, was zu einer bestimmten Stunde regelmäßig in seinem Haus vonstatten ging - zumindest in der Wohnung, deren nicht unerhebliche Kosten er trug -, wollte sich Signor CalcianTour persönlich ein Bild von der Lage machen und stieß in einem der beiden Schlafzimmer auf mich und Apache mit Camilla beziehungsweise Mara. Das Licht war aus, und zur Schaffung der erforderlichen sündhaften Atmosphäre spielte ein
tragbarer Plattenspieler Je t’aime moi non plus - am Ende der Platte ließ mein Freund sie jedes Mal mit einer Fußbewegung wieder von vorn beginnen. Wir versuchten, Signor CalcianTour davon zu überzeugen, dass wir nichts Schlimmes machten - dass zumindest keine Orgie stattfand, denn beide Paare waren ja in ihre eigenen Spielchen vertieft -, dennoch setzte er uns, zweifellos unter dem Eindruck der Dunkelheit und des unentwegten Stöhnens von Jane Birkin, vor die Tür, ohne uns auch nur die Zeit zum Anziehen zu lassen. Fausto wurde ins Internat verfrachtet, die Wohnung dichtgemacht, und damit war auch jener fulminante Abschnitt unserer Jugend zu Ende.
Wir fuhren immer noch von unserem Dorf hinunter, aber selbst wenn wir von den Restriktionen, welche die von Signor CalcianTour pflichtschuldigst informierten Eltern den quasistädtischen Mädchen auferlegt hatten, mal absahen, war es ohne unseren Treffpunkt einfach nicht mehr dasselbe. Außerdem hatte sich der Vater des Schweizers durch einen Strom heißer Toblerone-Schokolade schwere Verbrennungen zugezogen, und sein Sohn musste nach Zürich reisen, was uns unserer unentbehrlichen ökonomischen Stütze beraubte. Nur noch ein paarmal gelang es uns, unsere Freundinnen zu sehen, für jeweils wenige Minuten am Nachmittag, und eines Tages hatten wir nicht einmal mehr genug Geld für Sprit. Wir versuchten, auf die pendelnden Vamps auszuweichen, die uns allerdings aufgrund unserer früheren Ablehnung die kalte Schulter zeigten. Anfänglich trafen wir uns weiter auf der Piazza, aber nach allem, was wir erlebt hatten, gelang es uns bald nicht mehr, das ringsum herrschende Elend zu ertragen. So verkroch sich jeder in sein Haus und wartete, dass der Winter zu Ende ging. Für mich dauerte es weniger lang als für die anderen.
Es geschah an einem Morgen im Februar, als ich bei Imma mein Frühstück bezahlte und sie mit einem Augenzwinkern zu mir sagte: »Komm auf dem Rückweg bei mir vorbei. Ich muss dir was zeigen.«
15
Erwartungsvoll betrat ich die Bar. Den ganzen Vormittag hatte ich darüber nachgedacht, was Imma gesagt hatte, und über den Ton, wie sie es gesagt hatte. Was war es, was sie mir zeigen wollte? Sie gab sich einen Ruck, entfernte sich von ihrem Stützpunkt, beugte sich vor, um ihre Zigaretten vom Tresen zu holen, und deutete, während sie sich eine anzündete, auf den Karton mit der Aufschrift »Zerbrechlich«. In eine Rauchwolke hinein sagte sie: »Jetzt brauchst
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