Fesseln der Erinnerung
„Ich glaube, River hätte dir sehr gefallen“, sagte er. „Er hätte dir sämtliche Tricks beibringen können, die man als ungezogene Göre braucht.“ Dann standen sie auf, zogen sich an, und er erzählte ihr beim Frühstück von seinem Bruder, dessen Verschwinden ein riesengroßes Loch in seinem Herzen hinterlassen hatte.
Sophia hielt Max zurück, als er vor dem Duncan-Tower aus dem Wagen steigen wollte. „Ich möchte dir noch den Grund für den gestrigen Angriff auf mich erläutern.“ Sie konnte es nicht länger verbergen, nicht, nachdem er so rückhaltlos seine Erinnerungen über seine Familie mit ihr geteilt hatte. Ihr Herz war so voll, dass es ihr schwerfiel zu atmen, überhaupt noch ein Wort zu sagen.
„Was auch immer es ist“, sagte Max und legte den Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes. „Du weißt, dass es keinerlei Bedeutung hat. Nicht für uns.“
„Ich kann Erinnerungen manipulieren.“ Sie versuchte nicht, diese Tatsache zu beschönigen.
„Das weiß ich.“
Ihr Kopf zuckte hoch. „Wie bitte?“
„Ich bin Polizist, Sophie“, sagte er trocken. „Nach nicht ganz zwei Jahren hatte ich raus, wozu J-Mediale fähig sind.“
„Und warum verabscheust du uns dann nicht?“
„Ich dachte immer, euch bliebe keine Wahl. Und ich habe mich auf meine Arbeit konzentriert. Habe eindeutige Beweise gesammelt. Nicht alle großen Prozesse werden aufgrund der Aussagen von J-Medialen gewonnen oder verloren.“
Sie hätte es dabei belassen können, aber da sie nun einmal davon angefangen hatte, musste sie es auch zu Ende bringen. Sie wollte sich nicht durch Täuschung seine Zuneigung und Loyalität erschleichen. Das würde das Vertrauen zwischen ihnen zerstören und alles, was sie hatten, in den Schmutz ziehen. Deshalb strichen ihre Hände nicht vorhandene Falten in ihrem Rock glatt, während sie versuchte, Mut zu fassen, etwas zu sagen, obwohl die Angst vor der Zurückweisung sich wie eine eiserne Klammer um ihre Brust legte. „Erinnerst du dich an einen gewissen Dr. Henley?“, fragte sie. Der berühmte Genetiker hatte seine schwangere Ehefrau kaltblütig getötet, die Leiche in kleine Teile zerteilt und dann die Stücke auf einem seiner sonntäglichen Angelausflüge ins Meer geworfen. Man vermutete sogar, er habe sie als Köder benutzt.
„Den Fall werde ich nie vergessen.“
„Der Rat wollte ihn in eine mediale Einrichtung überführen lassen, damit er seine bahnbrechenden Arbeiten fortsetzen konnte.“ Der gefühllose Mord an einer unschuldigen Frau und ihrem ungeborenen Kind war als bloße Unannehmlichkeit abgetan worden. „Alle J-Medialen wussten Bescheid.“
„Wie dumm“, sagte Max kalt, „dass an seinem ersten Tag im Gefängnis eine plötzliche Embolie zu einem Herzstillstand führte und er starb, bevor ärztliche Hilfe eintreffen konnte.“
Sophia holte tief Luft. Sie hatte vermutet, dass ihm klar war, wozu J-Mediale in der Lage waren, und hatte ein für alle Mal reinen Tisch machen wollen, damit nichts als Ehrlichkeit zwischen ihnen herrschte, aber seinen Worten nach zu urteilen … „Hast du es immer schon gewusst?“
„Unter Polizisten wird es die J-Medialen-Strafe genannt“, sagte er mit grimmigem Gesicht. „Aber du warst nicht einmal in der Nähe. Ich habe mir deine Akte angeschaut. Als Henley starb, warst du ganz woanders.“
„Ja.“ Dann: „Damals schon. Aber nicht immer.“
Er machte seine Tür auf. „Komm jetzt.“
Sie ging mit ihm in das Gebäude, ihr Herz war schwer und doch voller Hoffnung. „Ich weiß, dass du mich voll und ganz akzeptierst“ – obwohl ihr das nach wie vor wie ein Wunder erschien – „aber ich dachte immer, du seiest … “
„Ein Prinzipienreiter?“ Er schnaubte. „Ich habe erlebt, wie reiche Typen Vergewaltigungsfälle abschmetterten, Politiker Missbrauchsvorwürfe unter den Tisch fallen ließen und verletzte junge Frauen Selbstmord begingen. Ich bin gegen Selbstjustiz, aber der Begriff trifft auch nicht ganz, was J-Mediale tun, nicht wahr? Sie kennen die jeweiligen Fälle ganz genau und verhängen Strafen, die den Verbrechen angemessen sind – und nur in den Fällen, in denen die Justiz versagen würde.“
„Wir sind aber nicht Richter und Geschworene in einer Person.“ Nie hatte sie so offen darüber gesprochen. Selbst unter J-Medialen wurden diese Dinge verschwiegen. Aber sie kannten alle Fakten, wussten Bescheid über das, was der J-Medialen-Dienst als Preis für die Arbeit ihrer Kategorie im Justizsystem ansah.
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